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Entlang des Rio Grande: die Kunst der GrenzeZeitschrift Umělec 2007/201.02.2007 Claudia Arozqueta | grenzszene | en cs de es |
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Die mexikanische Nordgrenze ruft Vorstellungen von Bruch und Verstümmelung hervor - eine offene Wunde, die vom Verlust des Territoriums Mitte des 19.Jh. herrührt. Die Region war bevölkert von verarmten Migranten, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen waren und deren Blick somit stets „auf die andere Seite“ gerichtet war. Der angespannte Umgang miteinander an der amerikanisch-mexikanischen Grenze verweist nicht nur auf eine trans-kulturelle Beziehung zwischen Gruppen und wirtschaftlich privilegierten Individuen, sondern bedeutet für den Großteil der Bevölkerung eine soziale Katastrophe. In dieser Landschaft der Gewalt und des fruchtbaren Bodens für Kommerzialisierung wird eine Medienbeziehung erzeugt von Bildern, die als die Gesellschaft selbst, als eine Präsenz vorgelegt werden, die uns vor den Grenzen der Macht und der Kommunikation warnt. Dies schließt die Schaffung und den Austausch von Kunst ein. Die sozialen Bedingungen an der Nordgrenze Mexikos stellen ein Szenario dar, das es in ähnlicher Form in verschiedenen Teilen der Welt gibt. Während sich Prozesse des Vergessens und des Ausbruchs überall vollziehen, versuchen einige Künstler, Hierarchien in der Bedeutung und Schaffung „sozialer Kunst“ abzubauen, um das gegenwärtige Klima an der Grenze zu ändern.
I. Mit der Absicht, verschiedene Lesarten einer Handlung zu erzeugen, verfasst Yoshua Okon in seinem Video „Coyoteria” einen zeitgenössischen Kommentar zu Joseph Beuys’ Werk „I like America and America likes me (1974)“. Für dieses Werk hatte sich Beuys drei Tage lang mit einem Kojoten in eine New Yorker Galerie eingesperrt, um über die Beziehung zwischen Natur und Kultur zu meditieren. Für seine Aktualisierung des Themas heuerte Okon einen menschlichen Kojoten an – also einen Schleuser, der Migranten über die mexikanisch-amerikanische Grenze schmuggelt und ihnen gefälschte Papiere verschafft – um das Tier zu ersetzen, während er selbst den Part des Künstlers übernahm. Zudem tauschte der die von Beuys verwendeten Accessoires aus – einen Filzumhang, einen Gehstock und verschiedene Ausgaben des Wall Street Journals — indem er stattdessen eine synthetische Decke, den Schlagstock eines Polizisten und diverse mexikanische TV-Programmhefte benutzte. Durch die Wahl der Materialien beleuchtet Okons Rekonstruktion verschiedene soziale Probleme: das Verhältnis zwischen Korruption, Klasse und Vertreibung als Aspekte der Natur des Menschen. II. In der Kälte eines weißen Kubus hören wir aus 16 Lautsprechern die 2.487 Namen derjenigen, die beim Versuch, die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko zu überqueren, ihr Leben ließen. Dieses Audiowerk von Luz Maria Sanchez – im selben Jahr in Auftrag gegeben von Artpace San Antonio – verleiht der Diaspora auf organische Weise eine Stimme, indem es Namen ohne Gesichter verwendet, die entweder isoliert – jeweils gefolgt von einem Moment des Schweigens – oder zusammenhängend als Kette gehört werden können. Die Absicht hinter diesem Werk ist es, mithilfe von gewagten Klängen, die gleichzeitig in mehrere Richtungen ausstrahlen, die Vielfalt an Bewegungen, die Migration andeuten, wiederzugeben. III. Während das Bild der Tageszeit sich kontinuierlich verändert, trägt uns das Video von Teresa Margolles schweigend durch die Straßen von Lote Bravo, Lomas de Poleo, Anapra und Cristo Negro. Hier sind mehr als 400 Frauen auf dem Weg zur Arbeit in ihre Montagefabriken in Ciudad Juarez, Chihuahua, entführt, vergewaltigt, gefoltert oder ermordet worden. Der Fußboden der Galerie zeigt im Stile eines Friedhofes 50 von Hand gemachte Backsteine, die aus dem Wüstensand der Orte, an denen man die Leichen der Frauen fand, geformt worden sind. Margolles versucht nicht, Erklärungen zu den Gründen für die Morde abzugeben; sie verweist nicht darauf, wie wenig hilfsbereit die örtlichen und nationalen Behörden bei der Aufklärung der Verbrechen gewesen sind; und sie spricht auch nicht über die negativen Konsequenzen wirtschaftlicher Modernität. Sie macht lediglich die Reste in ihrer Abwesenheit präsent – als ein Zeugnis für diejenigen, die weiterhin mit dem Schmerz leben müssen. IV. Mit dem Ziel, die Illusion eines öffentlichen Konsenses zu erzeugen, machen sich Fernsehprogramme sowie eine Vielzahl von Printmedien die „menschliche Tragödie“ zunutze, indem sie die melodramatischen und fiktiven Aspekte des Lebens besonders stark zum Ausdruck bringen und dabei die Konsumenten emotional einbeziehen. Damit Verständnis sich nicht in pure Obszönität umwandelt, versuchen Kunstwerke menschliche Erfahrungen im Lichte von Ereignissen darzustellen, wobei sie das Mittel der persönlichen Schilderung verwenden: die traumatischsten und schmerzvollsten Erfahrungen können nicht von Außenstehenden erzählt und erklärt werden. Die ethische Dimension der Schilderung besteht darin, dass die Erinnerung an ein Ereignis nicht in Vergessenheit geraten darf und unabhängig von jeder Veränderlichkeit aufgerollt werden muss. Die Kunst kann hierbei eine Art von Verhandlung mit der Realität anbieten, einen Filter, der es uns gestattet, unsere Grenzen als Zuschauer, die mit der Tragödie eines Mitmenschen konfrontiert sind, zu erkennen. In der Installation „From the Other Side“, die auf dem Film „De L‘autre cote” basiert, beides Werke von Chantal Akerman, wird eine Tour zu den Bedingungen an der Grenze aus drei verschiedenen Blickrichtungen angeboten. Im ersten Raum zeigt ein Monitor eine Endlosschleife der letzten Filmszene: hierbei macht eine Kamera, die in einem Auto platziert ist, nächtliche Bilder von einem amerikanischen Highway, während im Hintergrund Akermans Stimme einen Text über das Verschwinden einer Mexikanerin vorliest, die in den Vereinigten Staaten zu arbeiten pflegte. Im zentralen Raum, multiplizieren sechs Triptychen aus Monitoren das Bild der Grenze, die Sonora von Arizona trennt, und erweitern den Blickwinkel des Betrachters, indem sie die Sinnlosigkeit und die Gewalt solch territorialer Grenzen darstellen. Schließlich zeigt im letzten Saal ein Bildschirm, der in das Innere eines weiteren Bildschirms projiziert wird, das Bild einer Wüstenlandschaft in der Morgendämmerung und die sich in Luft auflösenden Träume von Männern und Frauen, tot und lebendig, auf der Suche nach einem besseren Leben. V. Die Vorstellung von der mexikanischen Grenze als ein technologisch hoch entwickeltes Gebiet steht im krassen Gegensatz zum täglichen Leben in den Maquiladoras. Diese Montagefabriken, in denen alle möglichen Produkte zusammengebaut werden, befriedigen die Bedürfnisse der Konsumzentren, die nach neo-liberaler Logik organisiert sind. Die Maquiladoras sind im Geschäft dank der Arbeitskraft junger Frauen im Alter von 15 bis 25 Jahren, die ausgebeutet werden, indem sie gezwungen werden, lange Schichten zu einem miserablen Lohn zu arbeiten. Auf der Grundlage von Interviews mit Prostituierten und Frauen, die in den Maquiladoras arbeiten, hat die Künstlerin Ursula Biemann das Anwachsen der weiblichen Arbeiterschaft innerhalb der Weltwirtschaft erforscht. Hierbei richtet sie ihr Augenmerk auf Prostitution als einzige Alternative für ein besseres Einkommen und auf sexuelle Gewalt in der Öffentlichkeit. In ihrem Essay und Video „Performing the Border” erhöht sie unser Verständnis vom Prozess der Massenproduktion sowie von der Art und Weise, in der die Maquiladoras die Körper ihrer Arbeiterinnen zu einem Stück Technik machen, indem sie sie zu austauschbaren Elementen reduzieren. Ungeachtet der Beteuerungen der Behörden, dass die Morde von Ciudad Juarez mit dem Drogenhandel verknüpft sind, ist Gewalt für Biemann Teil einer Kultur, die Frauen gleichzeitig in Objekte der Begierde und der Ausbeutung umwandelt; einer Kultur, die die Identität einer Frau als irrelevant zurückweist. Biemanns Arbeit beweget sich zwischen post-kolonialer Theorie und sozialem Aktivismus; und an dem Punkt, an dem sie auf den Zerfall wirtschaftlicher Utopien Bezug nimmt, dient sie als Katalysator, der den Frauen hilft, ihre eigenen, kritischen Strategien zu entwickeln. VI. Mit der Absicht, den Kommunikationsmedien einen sozialen Nutzen abzugewinnen – ein Prozess, der von allen Betroffenen eine weitere Ausarbeitung der Darstellung erfordern würde – bieten mehrere Künstlerprojekte die Möglichkeit, Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, indem sie das Video als Werkzeug zur Aufzeichnung von Lebensgeschichten einsetzen. „Maquilapolis“ ist ein von Maquiladora Arbeitern aus Tijuana erstelltes Dokumentarvideo. Das Projekt wurde von der Filmemacherin Vicky Funari und dem Künstler Sergio de la Torre angestoßen und dank einer Gruppe von örtlichen Aktivisten, die den Gebrauch von digitalen Videokameras fördern, auch umgesetzt. In Workshops werden Filmtechnik, Tonaufnahme und eine Vielzahl von Methoden zum dokumentarischen Geschichtenerzählen behandelt. Diese künstlerischen Strategien provozieren einen Austausch zwischen tatsächlichen Erfahrungen und Fiktionen, der die Menschen zu den Erzählern ihrer eigenen Realität macht. VII. Diesem Panorama gegenüber gibt es Künstler, die sich entscheiden als „Aktivisten“ und nicht als „Künstler“ zu arbeiten. Ihr Ziel ist es, die Zahnlosigkeit und das elitäre Gehabe der Medien aus der Welt zu schaffen. Hierbei handelt es sich vornehmlich um ein Problem der Nomenklatur, das den Zustand des heutigen Kunstsystems offenlegt. Eine von den Aktivisten ist Coco Fusco, eine kubanische Künstlerin, die es vorzieht, an öffentlichen Demonstrationen teilzunehmen und sich in oppositionellen Organisationen zu engagieren, während sie das Internet als Plattform für ihre Proteststatements nutzt. Extreme der künstlerischen Produktion sind Stücke wie Carlos Amorales „Flames Maquiladora”: eine Einladung an Europäer, Schuhe für das Showcatchen herzustellen, was die Distanz zwischen dem eingeladenen Publikum, das an der ästhetischen Erfahrung teilnimmt, und den ausgebeuteten Menschen in Randgebieten unterstreicht. Im Ganzen jedoch sind die privilegierten Räume, in denen Kunstausstellungen stattfinden – etwa Museen oder Galerien – zu Orten geworden, die es nicht mehr schaffen, kritisches Denken zu stimulieren. Eine Vernissage läuft für gewöhnlich Gefahr, Frivolität und den Wunsch nach Spektakel ins Zentrum rücken zu lassen. Eindeutig zunutze gemacht hat sich das Kunstsystem auch die von den Kommunikationsmedien angetriebene, gegenwärtige Hochkonjunktur von Berichten über das soziale Elend und das neue Bild der Grenze als Ort, an dem „Böses“ geschieht.
01.02.2007
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