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Zeitschrift Umělec 2010/1

01.01.2010

Michal Vimmer | en cs de

Der kühne Adept der demokratischen Metaphysik liest das Passwort am Tor zur neuen Welt des 19. Jahrhunderts: Gott ist tot. Der alte Torwächter, im Schatten verborgen, erwartet eine Antwort. Die Parole, die den Weg freimacht, lautet: „Alles ist erlaubt.“ Der Mensch ohne Gottesfurcht darf eintreten.
Er wird zum Bürger.
Mit dem Schritt in die Welt der Gleichheit und Freiheit lehnt der Demokrat die Frage nach der Existenz Gottes ab. Die Aussage über den Tod Gottes ist für den Gläubigen, der die Gewissheit an Gottes Gegenwart nicht verliert, weil Gott sein Leben selbst ist, genauso unannehmbar. Er zweifelt nicht an der Identität des Wächters dieses lügnerischen Epitaphs: Es ist Satan. Eine Welt ohne Gott bedeutet Chaos. Der Demokrat erkennt, dass Gott nie existierte und demnach auch nie einen teuflischen Gegenspieler hatte. In der demokratischen Metaphysik ist letztendlich alles egal. Die Welt ist, wie sie ist. Die Ordnung besteht, solange die Welt existiert. Die Welt ohne Ordnung lässt sich als Ganzes weder sehen noch verstehen – die Welt ist ja selbst das Ganze.
An dieser Stelle empfehle ich dem Leser, sich eine der oben angeführten Lesarten zu wählen und die verwendeten Begriffe so konkret wie möglich zu verstehen!
Die demokratischen Gesetze garantieren dem Menschen Gleichheit und Freiheit. Die Menschen sind von Gesetz aus gleich in der Möglichkeit des freien Handelns. Das Gesetz schützt die Grenzen der Demokratie, weil der Gegenpol der Freiheit des Einzelnen die Diktatur ist.
Die Maxime der Gleichheit aller Menschen ist der Tod. Der Demokratie bleibt nichts anderes übrig, als ständig der Scylla der absoluten Macht auszuweichen und sich von der Charybdis des Todes zu entfernen.
Demokratische Politik ist der ständige Kampf um das Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit. Wir wissen, was auf die Demokratie folgt, wenn sie das Gleichgewicht verliert: alle denkbaren revolutionären oder reaktionären Regime – Liberalismus, Sozialismus, Faschismus, Feminismus, Zionismus usw. Die Demokratie verspricht gegen die ständige Bedrohung der Diktatur als Alternative zum Tod die Unsterblichkeit, als Gegengewicht zur Willkür bietet sie die Unabhängigkeit an.
Das Mittel, das die Demokratie zum Ziel bringen soll, ist der Kapitalismus.
Das einzige Risiko auf dieser Pilgerschaft besteht darin, dass das Mittel gegen das Ziel eingetauscht wird, bevor es eintrifft.
Der Mensch im Kapitalismus besitzt das auf dem Gesetz beruhende Recht, als Händler auf den Markt zu treten, d.h. in die freie Gesellschaft anderer Menschen, und seine Waren und Dienste feil zu bieten und zu tauschen.
Obwohl der kapitalistische Markt als Modell der freien Gesellschaft angesehen wird, sind die Gleichheit und das Prinzip des Kapitalismus einander wesensfremd. Das Problem des Kapitalismus mit der demokratischen Gleichheit steckt darin, dass diese zwar zuerst durch das Gesetz gegeben ist, es aber viele gesetzgebende Gruppen (Staaten, Völker) gibt, die nicht gleich sind – schon deshalb nicht, weil sie gegensätzliche Handelsgesetze erlassen oder die Handelsfreiheit einschränken.
Solange nicht ein einziger Weltstaat entsteht und nicht ein universales Gesetzbuch in Kraft tritt, ist die Gleichheit des Einzelnen auf dem einheitlichen Markt nicht garantiert.
Das Problem der demokratischen Gleichheit mit dem Kapitalismus wiederum ist, dass Privateigentum, direktives Entscheiden der Eigentümer und ihr Bemühen um maximalen Gewinn bei minimalen Kosten notwendigerweise zu Ungleichheit führt.
Der Konflikt oder die Symbiose der Demokratie mit dem Kapitalismus erfordert die Lösung des Problems der Kultur, der Historie und der Irrationalität.
Kultur im weitesten Sinne (Kunst, Wissenschaft, Technik = Zivilisation) sondert den Menschen aus der Natur aus. Kultur bedeutet Ungleichheit, Immanenz, das Sichtbarwerden und die Begründung aller Privilegien: Kultur ist hierarchisch. Ungleichheit ist das Prinzip der Existenz und der Entwicklung der Kultur.
Historie ist das Abbild des lästigen Fortdauerns der Ungleichheit in der Vergangenheit, die ständig auf Kosten der Gegenwart anwächst. Die Historie mit ihrem ständig zunehmenden und unermesslichen Gewicht bedroht die Zukunft der Demokratie.
Die schwerste Last der Demokratie ist allerdings das künstliche Ideal der Gleichheit selbst. Das Dogma der Gleichheit aller Menschen ist eine rationale menschliche Wahl, eine ideologische Entscheidung, die nichts mit der unendlichen Irrationalität der Wirklichkeit gemeinsam hat.
Der moderne Kapitalismus ist zum Doppelgänger der Demokratie geworden, Dank dessen, dass er sich die Gleichheit angeeignet und mit ihr zu handeln begonnen hat.
Die kapitalistische Technologie der Gleichheit ist allgegenwärtig und zugänglich, weil sie billig und berechenbar ist – im Unterschied zur Freiheit.
Die exakte Gleichheit der Oberflächen und Gleichartigkeit von homogenisierten reinen Materialien, die minimalistische rechtwinklige Typisierung, die Normierung, Standardisierung und Homologisierung ermöglichen die einfachste Maschinenproduktion, Montage, Lagerung und Verkehr, beliebige Replikation, Kopieren aller Maßstäbe, Vervielfältigung, Abwaschen und leichte Reinigung. Vorgefertigte Teile erlauben es, was auch immer, praktisch wo auch immer, unabhängig von der Umgebung, zu verkaufen, zusammenzusetzen und aufzubauen; das Zusammenfügen der Komponenten ist unbegrenzt.
Inkompatibilität ist in der Welt der materiellen Gleichheit ein grundsätzlicher Makel.
Die ständige Innovation der kapitalistischen Technologie ist Garantie für die ständige
Annäherung an das Ideal der Kompatibilität und auch Grund für die unendlichen Veränderungen des Standards, auf den sich alle neuen Bestandteile kapitalistischer Waren beziehen. Ja, die ewige Neuheit, die wissenschaftlich projektierte, permanente Veränderung der Geometrie und die Punzierung zukünftiger Vollkommenheit als entscheidendem Faktor hat die menschliche Kultur verändert.
Die moderne Kultur ist im selben Maß modern und demokratisch wie der Kapitalismus.
Der demokratische Held verließ lyrisch die hohen metaphysischen Tugenden wie Demut, Aufopferung, Treue, Liebe, Ergebenheit allem unantastbar Höherem gegenüber, verlachte dadaistisch die einschränkenden ethischen Abstraktionen höherer Kunst, machte sich prosaisch daran, alle irdischen Tabus einzureißen und startete einen Wettlauf im Überwinden der Grenzen menschlicher Möglichkeiten.
Der demokratische Held ist kein Heiliger. Der Held des demokratischen Ethos ist Prometheus, Luzifer, Faust, Schauspieler, Sportler und Model, Unternehmer und Gangster: ein stets freier und unabhängiger Einzelner, der das Maß aller Dinge ist und eigenwillig seine Pläne durchsetzt. Die revolutionären Künstler der Moderne veränderten alle traditionellen künstlerischen Formen, unterzogen sie einer Neubewertung, verwarfen sie und suchten neue. Nicht lange darauf stellte sich allerdings heraus, dass das Repertoire der künstlerischen Ausdrucksweisen, der Äußerungen des menschlichen Körpers und geistiger Bewegungen begrenzt ist. An dieser Stelle begeisterten sich die modernen Künstler für Maschinen. In der Fabrik reichte der revolutionäre Künstler dem modernen Kapitalisten, dem Eigentümer der Maschinen, die Hand. Die traditionelle Schöpfung mythischer Gesten der Vorsehung ersetzte rational zunächst die konkrete Geometrie und schließlich die konzeptuelle Algebra. Revolution in der Kunst ist heute nur noch Dank der Technologie möglich.
Nicht die verfassungsmäßige, gewaltlose, nichtangreifende defensive Demokratie, sondern der Kapitalismus erfüllte den alten Menschheitstraum: Ja, der Kapitalismus besiegte endgültig die Natur.
Erst der moderne Kapitalismus hatte genug Kraft und Entschlossenheit, um aus der Mutter, die ihre Kinder ermordete, eine Dienerin zu machen. Die demokratische Befreiung des Menschen vom imaginären Gottvater ist im Vergleich zur Unterjochung von Mutter Natur ein ganz und gar bedeutungsloses Ereignis.
Noch der sogenannte Frühkapitalismus (bis Ende des 19. Jahrhunderts) befand sich gegenüber der Natur in einer ungleichen, untergeordneten Position. Die Zivilisation musste sich der Welt ringsum anpassen. Der vormoderne Kapitalismus grenzte sich gegenüber der Natur durch den hierarchischen Historismus, durch die Akzentuierung einer langen Linie gesellschaftlicher Ungleichheit ab, wobei die unteren Schichten dem engen Kontakt mit der feindlichen Natur ausgesetzt waren. Dem gegenüber setzte sich die gesellschaftliche Elite dem gefährlichen, barbarischen, nichtkulturellen Äußeren lediglich bei feierlichen Jagdritualen, Militärparaden und Gartenfesten aus.
Die Technologie des modernen Kapitalismus veränderte die Stellung des Menschen gegenüber der Natur von Grund auf.
Der moderne Mensch ist Dank der Hygiene von Infektionskrankheiten und Parasiten befreit. Die hormonelle Antikonzeption gibt Freiheit bei der Wahl der Empfängnis. Die Chirurgie ermöglicht die Änderung des Geschlechts, die Transplantation von Organen, Spermien, Eiern und Embryos und die gewagtesten Adrenalinsportarten. Psychopharmaka befreien von dem Leid der Seele. Die industrielle Medizin gibt den Hoffnungslosen weitere Chancen. Die Technologie bietet der menschlichen Identität die Möglichkeit, die anatomische und genetische Anordnung des unvollkommenen und sterblichen Körpers zu verändern.
Der gebildete, selbstbewusste moderne Mensch hat begriffen, dass nur die MASCHINE vollkommen und unsterblich sein kann.
Aus der Ära der rationalen Reinheit ist der Mensch in die schmutzige Sphäre des toten Raumes getreten. Toter Raum ist der anatomische Teil der Atemwege, der sich nicht direkt am Sauerstoffaustausch beteiligt. Die Luft, die vom Lebewesen mit Blut gemischt oder aus dem Blut entfernt wird, muss einen scheinbar funktionslosen, überflüssigen Abschnitt toten Raumes überwinden. Das erfordert einen bestimmten Druck, eine Anstrengung, also Energieaufwand, der sich einsparen ließe, wenn die Lunge unmittelbar in Berührung mit der Luft stünde.
Toter Raum ist auch der Teil des Schussfeldes, wohin man den Lauf nicht richten kann. Der Feind nutzt dies aus – es ist de facto feindliches Gebiet.
Der tote Raum ist nutzlos, unberechenbar und gefährlich, weil wir nicht hineinsehen können und nicht wissen, was darin vorgeht. Er interessiert uns nicht, weil er unangenehm und überflüssig ist. Der tote Raum ist ganz einfach zu identifizieren: Er ist überall da, wo Schmutz haften bleibt, sich ansammelt und dann nur schwer entfernen lässt.
Es ist jetzt am Menschen, sich der Technik anzupassen. Nicht umgekehrt.
Im Schatten des Fortschrittes, der kristallreinen technologischen Rationalität des modernen Kapitalismus, ergießt sich ein Meer toten Raumes. Raum, den niemand haben will, der im Weg ist und irgendwie herrenlos. Der überflüssige Raum an den Grenzen von Privatgrundstücken, Besitzungen, Objekten und Leben. Das Gebiet toten Raums umgibt jede Trennlinie, Grenze und Verbindungslinie moderner Architektur und Designs.
Ecken, Winkel, Zähne, Nischen, Vorsprünge, Falten, Verbindungen, Fugen, Schweißnähte, Risse. Der tote Raum wird von Mülldeponien, Verkehrsstaus, Verspätungen, Langeweile, Lebensmittelfett, Allergien, Unfruchtbarkeit, Abhängigkeit und einer Population alter entfremdeter Egoisten gefüllt.
Die Irrationalität der Unabhängigkeit, also der Freiheit unbedachter, zusammenhaltloser Dinge und unvollkommener Materialen ist der Zauber, der das Rad des Lebens, der ewigen Jugend und Neuheit der kapitalistischen Technologie antreibt. Die Freiheit der Unvernunft und des Verschwendens beansprucht und kolonisiert den klassischen, materiellen Raum, der in der realen Zeit endlich ist, notwendigerweise verbraucht und ausgeschöpft wird.
Der tote Raum entsteht quasi als Nebenprodukt des freien Unternehmens. Als Kommodität ist er heute eine modische Geschäftsmöglichkeit. Dabei stellt er allerdings keine Ausnahme der Erdoberfläche dar. Er ist keineswegs ein neuer Raum. Die Wiederverwertung von Abfall, die Liquidierung ökologischer Schäden, die Beseitigung von Graffiti, die Unterhaltungsindustrie, ein auf eine lebenslängliche Behandlung von Zivilisationskrankheiten (mit dem Ideal einer unendlichen Liposuktion) angelegtes Gesundheitswesen, das Aufbauen einer virtuellen Realität und der Handel mit Seifenblasen gehen nicht ohne anhaltende Grundlagen der lebenden Natur und Wirtschaft vor sich. Die menschliche Parallelwelt ist von der wirklichen Welt auf immer und ewig abhängig.
Nach der Ära der Ausbeutung läuft die Etappe des Wiederkäuens von Ersatzstoffen ab. Und weiter? Nach der physischen Liquidierung des Raumes kehrt der klassische kapitalistische, wirtschaftliche Sinuszyklus nicht zurück. Es konstituiert sich vielmehr ein linearer kleiner Abschnitt, der auf das Ende zueilt. Das Ideal des freien Wachstums anorganischer Kristalle ließ eine nichtlebensfähige Zivilisationsform entstehen.
Was ist die Lösung für die Demokratie?
Die Unabhängigkeit (Isolation) einzelner politisch Apathischer genügt als Schutz vor einer ideologischen Diktatur. Zum biologischen Überleben ist es im gegenwärtigen Entwicklungsstadium nötig, einen zweiten Grundpfeiler der Demokratie zu garantieren, den die technologische Unsterblichkeit darstellt – die Alternative zur Gleichheit.
Die marketingmäßig optimistische Vorstellung von der technologisch direkten Demokratie als Allheilmittel gegen das korrumpierte Stellvertretersystem zeigt die Naivität der traditionellen Demokraten in den Epochen des Spätkapitalismus in all ihrer nackten Schönheit. Wir wünschen uns Gleichheit als vereinheitlichte Hardware, als einheitlichen Kommunikationscode. Wir wünschen uns unsere Kommunikation angeblich auf die Stufe von Dyslektikern, Dysgrafikern, Analphabeten und Psychopathen degradiert. Freiheit in der Form von Mobilität. Alles, wann und wo auch immer Lesbare, Überprüfbare, Messbare und Zugängliche auslöschen. Wer heute kein Handy hat, existiert nicht. Etwas später: Wer keinen Chip im Körper haben wird, wird nicht sein. Wird weder frei noch gleich vor dem Gesetz sein. Wenn er keine Chiffre wird.
Eier der weichen, postindustriellen, digitalen Gesellschaft wälzen sich schon aus modernen Schachteln. Die ökologische Postmoderne gebiert entweder einen Menschen–Maschine oder eine kleine, solare, unabhängige, selbstbewegliche, am besten grüne, homosexuelle Maschine.
Eine andere Zukunft der Demokratie kann ich mir nicht vorstellen.





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