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EntropieZeitschrift Umělec 2010/101.01.2010 Michal Vimmer | en cs de |
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Entropie im Open Space /oder: Was wäre der Galgen ohne Strick Friedrich Nietzsche, der größte Psychologe der Moderne, bemerkte irgendwann vor 125 Jahren, dass ringsum ein Krieg um das christliche Erbe wütet. Die alten Christen suchten neue Propheten und eine neue Religion. Fortschrittliche Ideologien und Regime wechseln aus der Sicht der Ewigkeit so schnell wie das Wetter, nichtsdestotrotz änderte der Triumpf der Design-Revolution das Antlitz der Welt auf Dauer. Es herrscht der Funktionalismus, er breitet sich immer weiter aus und erobert neue Gebiete. Der unumkehrbare Erfolg der sogenannten rationalistischen Richtung in der Architektur erweckt logischerweise den Eindruck, dass sich der Funktionalismus über die Jahrzehnte hinweg bewährt hat und zum materiellen, wahrhaftigen Ausdruck der Vernunft und Gestalt menschlicher Bedürfnisse im Raum geworden ist. Der Lineal- und Winkelfunktionalismus ist sicherlich rational. Gerade Linien teilen die Ebene klar auf. Ideale rechte Winkel grenzen die Fläche ohne Überreste ab. Kahle Flächen ermöglichen absolute Annäherung und den unmittelbaren Kontakt. Grundrisse und Umfänge von Immobilien sind genau berechen-, mess- und bewertbar. Funktionalistisches Design bleibt auch nach hundert Jahren eine „neue“, moderne morphologische Erscheinung; NeuForm bleibt es ebenso. Falls die Qualität der Funktion den Grad der Zweckmäßigkeit für seinen Benutzer, Bewohner, Menschen definiert, dann gibt es in der Biosphäre nichts, was dem Funktionalismus gleich käme. Drei Reiche der Natur – Pilze, Pflanzen und Tiere, von Einzellern bis zu höchsten Organismen, kennen weder gerade Formen noch rechte Winkel. Ob lebendige Geschöpfe ihre Zeit nun an einem festen Ort zubringen oder sich bewegen – sie müssen sich ihrer Umgebung anpassen und umgekehrt. Sie müssen in einer Landschaft leben, unter Gegnern und Räubern, im gegenwärtigen Klima, wobei alles fließt und sich verändert. Die Kette der Generationen einer Gattung übergibt das Beste, was sie weitergeben kann, zur unwiederholbaren Prüfung. Sie muss. Entweder sie ist da oder sie ist es nicht. Die lebendige Natur wimmelt von Formen und Farben im warmen Meer und tropischen Urwald, wo es eine Fülle von Quellen und mannigfaltige Konkurrenz gibt. Doch nirgends in der lebenden Welt existieren eckige Augen, Nieren, Lebern, Fische, Pilze, Moose, Schlangen, Stachelschweine, Schneckenhäuser, Muscheln, Frösche, Wespen- oder Vogelnester, Zwiebeln, Fledermäuse, Honigwaben, Schildkröten, Ameisenhaufen usw. Aus Fischlaich oder dem Ei hervorgehend – das Evolutionsdesign ist immer gekrümmt, rund oder rundlich, den Elementen widerstehend und angepasst. Auch der Mensch, erfolgreichster Höhepunkt der Evolution, stellt in seiner Anatomie hinsichtlich des natürlichen Designs keine Ausnahme dar. Die Dinge des alltäglichen Gebrauchs – Kissen, Federbett, Teller, Topf, Besteck, Waschbecken, Latrinenöffnung, Kloschüssel, Wasserleitung und Abflussrohr sehen fast immer gleich aus. Sie sind rundlich. Bei Tischen, Stühlen, Betten, sämtlichen Möbeln und Haushaltsgegenständen ist das schon komplizierter. Auf einen eckförmigen Teller zu treffen, ist sicher kein ganz alltägliches Erlebnis, aber noch seltener stößt man auf einen runden Tisch oder ein rundes Bett. Der Bewohner einer modernen Stadt voller Ecken muss sich in seiner Wohnung voller Kanten um die modernen eckigen Dinge geradlinig, mit Respekt und vorsichtig bewegen können: vor, zurück, rechts, links. Er muss sich dem Design anpassen oder er wird bestraft. Das rechteckige Design legt ganz und gar eindeutige Regeln fest. Und wenn der Mensch sie befolgt, sinkt das Verletzungs-, Unfall- oder Todesrisiko, das sonst hinter jeder Ecke lauert. Der Funktionalismus entspricht zuverlässig den konkreten Bedürfnissen von Schienen- und gleichachsigen Geräten. Er ahmt formal und mathematisch genau die Struktur der Welt der Kristalle nach. Das rationalistische Design entspricht historisch gesehen nicht der natürlichen Selektion. Funktionalismus ist natürlich nicht evolutionär, sondern revolutionär. Der Sieger der letzten Revolution ist stets das letzte Glied der Entwicklung. Am Anfang des Funktionalismus war das Wort. Aus der Uridee der Ablehnung der Historie folgte der Anspruch auf die physische Vernichtung der Vergangenheit. Der Funktionalismus entspricht der notwendig revolutionären Deutung der Welt und dem Neubeginn des Aufbaus der Zivilisation. Da es sich um eine Revolution von oben handelte, mit einem nicht-öffentlichen Programm, das nicht die Unterstützung der Massen hatte, konnte sich der Design-Umsturz nur in Verbindung mit der herrschenden Macht und dem Druck enormer theoretischer Anstrengungen vollziehen. Zum Apostel der funktionalistischen Revolution wurde der Wiener Architekt Adolf Loos. Looses Manifest Ornament und Verbrechen aus dem Jahr 1908 legte den Grundstein aller Bauten der Zukunft. Als Reaktion auf die ornamentale Orgie der Jugendstilära, dem letzten Stils ohne vorgeschriebenes Dogma, klagte Loos das Ornament an und verbannte es auf den Schuttplatz der Geschichte. Die gesamte Evolution lief nach Loos bis dahin nur auf das Verwerfen von Ornamenten hinaus, der Auslöschung des Markenzeichens überkommener Kulturen. Looses Mitpilgerer Corbusier, Schweizer Architekt, verbot im Jahr 1923 theoretisch jegliche Dekoration, Farben und Formen, die komplizierter als einfache Geometrie sind. Er forderte, Paris dem Erdboden gleich zu machen, um Platz zu schaffen für eine ingenieur- und maschinenhaft harmonische Ästhetik, einer Maschinerie nach Vorbild amerikanischer Fabriken, Gurtförderbändern und Statuengruppen von Betonsilos. Die Vertreter des revolutionären Designs boten ihre Visionen und Projekte den neuen utopischen Diktaturen zum Dienst an und hatten damit Erfolg. Als Erste setzten sich die italienischen Modernisten im faschistischen Italien durch, Corbusier kam später in der Sowjetunion zu Anerkennung. Hitler, selbst Theoretiker einer neoromantischen Architektur, lehnte die Bauhausentwürfe ab. In der Emigration jedoch feierte die deutsche Designschule die bedingungslose Kapitulation des Historismus gegenüber den Kreationen der Monumente des amerikanischen Liberalismus. Um den Sieg der Deutschen in Amerika machte sich besonders der Architekt P. C. Johnson verdient, ein homosexueller Bewunderer Hitlers. Die Philosophie, der Glaube, die Ideologie des Schöpfers oder Benutzers sagen jedoch nichts über den Gebrauchswert eines Werkes, einer Ware oder eines Systems aus. Funktion hat nichts mit Charakter, Moral, Geschmack gemein. Angeblich. Aber anlässlich der Zerstörung der Bürogebäude des World Trade Centers im September 2001 erfuhr die ganze Welt, dass es zu einem barbarischen Angriff auf die Grundfesten der freien Gesellschaft gekommen war, auf das Herzstück des freien Handels und Unternehmens, auf das Fundament der entwickelten modernen westlichen Zivilisation, geradezu auf die SYMBOLE der Demokratie. Im Jammern und Zorn über den Trümmern der New Yorker Wolkenkratzer war es nicht der geeignete Zeitpunkt zu fragen, wie demokratisch es ist, in riesigen Türmen und ihrem Schatten zu leben. Der praktische Grund für den Bau von Hochhäusern und immer höherer Wolkenkratzer ist der Grundstückspreis. Der Preis für die Höhe ist ständige Dämmerung und Treibhausatmosphäre, das mit der Höhe steigende Risiko eines Zusammenbruchs des vertikalen Steuerungsnetzes, die Abhängigkeit von Aufzügen, Klimatisierung und Durchlässigkeit der unteren Stockwerke, weil von unten Energie, Wasser, Wärme und alles andere kommt. Der einzige Weg, auf dem man aus dem Turm gelangen kann, führt nach unten. Die Konzerne, die an teuren Adressen in den oberen Stockwerken residieren, entscheiden selbstverständlich nicht demokratisch, sondern nach dem Willen der Aktionäre. Die Funktionsvertikale drückt die horizontale Anordnung des Büroterrariums aus: Die Untergebenen sind sichtbar hinter Glas auf einer minimal gegliederten Fläche verteilt, in rechtwinkligen Kästen, ihrer Privatsphäre beraubt. Warum soll gerade ein hoher senkrechter Block mit glänzenden, kahlen Wänden aus Beton, Glas und Stahl Symbol der Freiheit und Demokratie sein? Traditionelle Symbole – Archetypen, benötigen keine langen ideologischen Kommentare. Sie wirken selbst auf den unvorbereiteten Laien mit zuverlässiger Macht. Archetypen kehren ewig wieder, verlieren sich nicht, tauchen immer und immer wieder in neuen kulturellen Gestalten auf. Auch als der christliche Gott von uns ging, kehrten die Zurückgelassenen in der eingetretenen Leere und Dunkelheit zum Mythos zurück. Der Wiener Otto Weininger inspirierte seine Zeitgenossen in seinem Buch Geschlecht und Charakter (1903) durch die Kraft mythischer Assoziationen. Er befand, dass am Verfall der das Genie entbehrenden Gesellschaft das Aufkommen des weiblichen Prinzips, das in Gestalt von Juden und Homosexuellen in Erscheinung tritt, Schuld trägt. Weininger, selbst Jude und Homosexueller, verhalf seinem Werk dadurch zu Ruhm, indem er in dem Haus, in welchem Beethoven – für Weininger das letzte Genie – gestorben war, im Alter von 23 Jahren Selbstmord beging. Weiningers misogyne These fand in der Wiener, aber auch in der europäischen intellektuellen Sphäre beachtlichen Anklang und Einfluss, Adolf Loos nicht ausgenommen. Die Frau ist nachweisbar animalisch, leer, geistlos, platt, oberflächlich, dumm, genusssüchtig, vom Trieb beherrscht, eitel, passiv und impulsiv, unbeständig und spontan, weich und fügsam, das Dunkle selbst – das männliche Prinzip ist ihr strahlendes Gegenteil. Der Mann ist das Licht, der Tag, der Geist. Er ist die Sonne. Die Frau, kühl wie der bleiche Mond, nur sein Abglanz und vertieft sich in die Dunkelheit. Der Mann ist Schöpfer und Fortschritt, die Frau liegende Materie, Stagnation, Tradition. Der Mann ist Kultur, Wissenschaft, Ordnung und Zivilisation, die Frau dagegen Chaos und Barbarei. Der Mann ist rein und seine Äußerung klar. Die Frau hüllt sich in einen Nebel aus Parfüm, Kosmetik und Intrigen, um ihren wesenhaften, sündhaften Schmutz zu verbergen. Falls geradlinig, genau, klar, eben, hoch, scharf, hart und eckig männliche Attribute sind, müssen alle Unebenheiten, Ungenauigkeiten, Krümmungen, weiche, niedrige und runde Formen als Attribute des weiblichen Elements ausgerottet werden. Wenn denn Frauen, Primitive, Sklaven, untergeordnete Rassen und Kinder an Ornamenten, Schmuck, Firlefanz, Zierat und Farben Gefallen finden, gehören diese weggefegt. Darin waren sich Loos und Corbusier einig. Der Mann ist immer schön, die Frau für gewöhnlich hässlich. So wurde aus der modernen Architektur rational der Bogen als unreine Form ungeachtet seiner tragenden Vorzüge abgelehnt, ebenso wie die ursprüngliche, ideale griechische Demokratie rational die de facto unverzichtbaren, aber vernachlässigbaren Frauen und Sklaven von der Entscheidungsfindung ausschloss. Die Modernisten ergriffen das herrenlose christliche Kreuz und vergitterten damit die Welt. Das Chaos vor den auf Hochglanz polierten Auslagen der Zivilisation lässt aber nicht durch die bloße Anordnung nach. Natur gibt es nur eine, und die duldet keine Asymmetrie. Den durch die rechtwinklige Ordnung bedingten künstlichen Befehlen stellt sich unablässig die amorphe Entropie entgegen. Die in die Ecke getriebenen Elemente verstummen nicht eher, als bis die Rohrverbindungen und Schweißnähte der Armaturen nachgeben, die Treppenkanten abgewetzt, die Balken der Übersetzung gebrochen, der Putz abgekratzt ist und die blutigen Rippen zum Vorschein kommen. So lange Autowracks nicht die Kreuzungen des Todes verbarrikadieren, kommt es zu keinem Verkehrsgleichgewicht. Auf blinde Wände öder Korridore greifen mit wilder Kaligraphie Graffiti an, die Population wird dicker, fixt, lässt sich durchstechen und der Horizont westlicher Städte sieht sich von ornamentalen Moscheenkuppeln umgeben. Wer immer einen Kranz an einem Grab niederlegt, eine Zahnprothese aufs Fensterbrett legt, den Weg ums Eck durch einen öffentlichen grünen Bogen abkürzt, sich ein Plüschtier in der Koje im Open Space aufhängt, Aufkleber aus Bananen am Kühlschrank aufklebt – schmirgelt in dunklem Unbewusstsein an der äußeren rechtwinkligen Welt. So rahmte Picasso seine kubistischen Bilder oval. Adolf Loos schrieb in Ornament und Verbrechen: „Wenn sich ein moderner Mensch tätowieren lässt, ist er entweder ein Krimineller oder degeneriert. Es ist kein Wunder, dass es Gefängnisse gibt, in denen achtzig Prozent der Häftlinge tätowiert sind. Diejenigen, die tätowiert und keine Häftlinge sind, sind entweder verkappte Kriminelle oder degenerierte Aristokraten. Falls ein Tätowierter in Freiheit stirbt, dann nur dank des Umstands, dass er ein paar Jahre vorher starb, bevor er einen Mord begehen konnte.“ Die lebende Wahlfreiheit sollte sich nicht darauf beschränken, ob man sich tätowieren, durchstechen lässt oder dick wird. Literatur: (außer R. Monk, A. Valentinová - ist alles im Internet)
01.01.2010
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