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Manifest DestinyZeitschrift Umělec 2012/114.01.2013 14:55 Pablo Helguera | expansion | en cs de |
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In der Geschichte Amerika‘s sind Vorbilder zu finden, wie der Machismus und das Kampfvermögen unter die beschwingten Ideale des unausweichlichen Schicksals zu verbergen sind, wie das Paradies zu besiedeln ist und wie die Grenzen von seinen Gärten unbegrenzt und unbekümmert auszudehnen sind. Ein gleichsam barrierefreier Zugang zur Realität hatte auch Joyce Hatto, die in ihrem Leben über 120 Platten mit Klavierkonzerten aufgenommen hat. Eine der größten Pianistinnen Englands – nicht wahr?
MANIFEST DESTINY wurde im Berliner Theater HAU (Hebbel am Ufer) am 19. Januar 2008 uraufgeführt. Die letzte Aufführung mit drei Schauspielern wurde am 27. Januar 2009 am Cooper Union in New York gezeigt. Das Bühnenbild besteht aus einem Bildschirm mit rotierenden Bildern und einer vielfältigen Auswahl amerikanischer und mexikanischer Musik aus dem 19. Jahrhundert, klassischer Musik, die der Pianistin Joyce Hatto zugeschrieben wurde, sowie amerikanischer Musik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.
Sprecher 1 Im November 1839 veröffentlichte der amerikanische Journalist John O’Sullivan in United States Democratic Review die folgenden Sätze:
O’Sullivans Ideen bildeten die intellektuelle Grundlage für den Begriff „Manifest Destiny“, ein Ausdruck der große Spannungen unter die Politiker bringen würde, die den Jefferson‘schen Traum von der kontinentalen Expansion verwirklicht sehen wollten. Die Fürsprecher des Manifest Destiny glaubten, dass Expansion nicht nur gut war, sondern offenkundig (Manifest) und vorbestimmt (Destiny). Ein Befürworter dieser Idee war James Polk, ein Jacksonianischer Demokrat, der 1844 Präsident wurde. Die Vereinigten Staaten waren damals ein kleines Land. Texas war noch nicht Teil der Nation geworden, die Gebiete um Oregon waren noch nicht angeschlossen und im Südwesten endete das Land mit Missouri und Louisiana, die kurz vorher den Franzosen abgekauft wurden. Polk hatte eine Vorstellung von der Expansion, die die Geschichte des Kontinents nachhaltig verändern sollte.
Sprecher 2 Am 30. Juni 2006 verstarb die Pianistin Joyce Hatto in einer beschaulichen Kleinstadt in England. Am darauffolgenden Tag trauerte die Presse weltweit. Der Guardian schrieb: „Joyce Hatto, die im Alter von 77 Jahren verschied, war eine der größten Pianistinnen, die England jemals hervorgebracht hat“, und weiter, „Ihr Vermächtnis ist eine Diskographie, wie sie in Umfang, musikalischem Spektrum und gleichbleibender Qualität nur bei wenigen Pianisten in der Geschichte zu finden ist.“ In den letzten Jahren ihres Lebens wurde sie von einer nahezu unbekannten Pianistin zu einem Superstar an der Klaviatur. Die meisten von Hattos Aufnahmen sind auf die frühen 1990er Jahre datiert, als sie bereits in einem Alter war, in dem sich viele Pianisten bereits zur Ruhe gesetzt haben. Ihr atemberaubendes Werk enthält die gesamten Einzelarbeiten von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Liszt, fast alles von Chopin, sämtliche Sonaten Prokofievs und die kompletten Konzerte von Brahms, Saint-Saëns und Rachmaninow. Hatto war eine von nur vier Pianisten (und die einzige Frau um die 70), die jemals alle vierundfünfzig Etüden Chopins aufgenommen haben, die nach wie vor als die schwierigste Klaviermusik angesehen wird, die je komponiert wurde.
Joyce Hatto wurde 1928 als Tochter eines Londoner Antiquitäten-
Der Abstieg ihrer Karriere begann bereits in den frühen siebziger Jahren, als bei ihr Krebs diagnostiziert wurde. Mit ihrem Klavier und ihrem Mann, dem Toningenieur William „Barry“ Barrington-Coupe, setzte sie sich in einem Dorf in der Nähe von Cambridge zur Ruhe. Was dann kam, versetzte die Musikwelt in Überraschung. Im Jahre 1989 begann Joyce Hatto CDs für das kleine Label Concert Artist aufzunehmen, das ihr Mann betrieb. Sie begann mit Liszt, spielte Bach und alle Mozart Sonaten nach und fuhr mit sämtlichen Sonaten Beethovens fort, es folgten Schubert und Schumann, Chopin und noch einmal Liszt. Sie spielte Messiaen. Die kompletten Sonaten Prokofievs wurden mit unglaublicher Virtuosität vorgelegt. Mit beeindruckender Geschwindigkeit und Exaktheit nahm sie insgesamt mehr als 120 CDs auf; mit ihrem Ehemann als Produzent bewältigte Hatto ein gewaltiges Repertoire. Für eine ältere Dame war dieser Erfolg beispiellos, was durch die Tatsache, dass für die Aufnahmen kaum Werbung gemacht wurde, noch seltsamer wirkte. Joyce Hatto ging als ein Novum in die Annalen der klassischen Musik ein: ein Wunder des Alters – das Nonplusultra der Spätvollendeten, eine unbekannte Meisterin der Musik.
Sprecher 3 1861 waren die Vereinigten Staaten noch keine hundert Jahre alt. Der Bürgerkrieg hatte noch nicht stattgefunden. Und ein Mann wurde geboren, der später die historische Vergangenheit seines Landes aufzeichnen und damit der bekannteste und meistverkaufteste Künstler in Amerikas Geschichte werden sollte. Am Sonntag, den 17. November 1861 wurde Wallace Nutting in Rockbottom, Massachusetts geboren. Er studierte am Theologischen Seminar in Hartford und an der Universität von Harvard und machte dort 1887 seinen Abschluss. Er wurde Minister, war aber auf Grund seines schlechten Gesundheitszustandes gezwungen, die politische Bühne im Alter von dreiundvierzig Jahren zu verlassen. Wie viele Männer in dieser Zeit, machte er das Fotografieren, das zunehmend kommerzieller wurde, zu seinen Hobby und war versessen darauf, in diesem Zusammenhang Reisen durch das Land zu unternehmen. Nuttings Amerika war ein Land, das eine rasante Veränderung erfuhr. Mit der Jahrhundertwende kam die Industrialisierung in die Vereinigten Staaten. Die Städte verwandelten sich zusehends und die Menschen verließen die ländlichen Gebiete. Die Immigration aus anderen Teilen der Welt stieg an und die Präsenz der Neuankömmlinge veränderte die amerikanische Landschaft schnell. Es war bei einem seiner Spaziergänge durch die Natur, als Nutting eine Erleuchtung hatte. Er hielt an einem kleinen Bach nahe einer verfallenen Neu-England Farm inne und setzte sich mit seiner Kamera unter einen Baum. In diesem Moment fühlte er einen seltsamen Anflug von Nostalgie. „All diese Landschaften verschwinden“, dachte er. „ All das, was so ur-amerikanisch ist. Ich muss diese Bilder für die Nachwelt sichern.“ Das war der Beginn einer ungewöhnlichen Reise. Ohne es zu wissen, wurde Nutting der erste, der die Vereinigten Staaten als ein Land mit Historie zeigte. Mit seinen Fotografien brachte er die Idee des Alten Amerika zur Welt.
Sprecher 1 Die Vereinigten Staaten drückten ihr Interesse an der Ausweisung der Britischen Kolonialmacht aus Nordamerika aus. Als das weder mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, noch mit dem Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812 gelang, nahm die Angst der Amerikaner vor der britischen Expansion in ganz Nordamerika zu. Diese Furcht wurde zu einem wiederkehrenden Thema in der Doktrin des Manifest Destiny und das Hauptargument für die Invasion in Mexiko. 1836 erklärte die Republik Texas die Unabhängigkeit von Mexiko und strebte später den Anschluss als weiterer Staat an die Vereinigten Staaten an. Dies war ein Expansionsprozess, wie ihn Befürworter von Jefferson bis O’Sullivan idealisierten: Eher sollten neue demokratische und unabhängige Staaten ihren Beitritt in die Vereinigten Staaten ersuchen, als dass die Vereinigten Staaten ihre Regierungsmacht Menschen aufzwingen, die dies gar nicht wünschen. Da der Union damit ein weiterer Sklavenstaat hinzugefügt werden würde, wurde der Anschluss Texas jedoch kontrovers diskutiert. Vor der Wahl 1844 erklärten sich der Kandidat der Whig-Partei, Henry Clay, und der vermeintliche Kandidat der Demokraten, Ex-Präsident Martin van Buren, beide als Gegner der Annektierung von Texas. Das führte dazu, dass die Demokraten van Buren zugunsten von James Polk fallen ließen, der die Annektierung befürwortete und die Wahl gewann. Mexiko erlangte 1821 seine Unabhängigkeit von Spanien und hatte die Gebiete von Oberkalifornien, Neu-Mexiko und Texas übernommen. Allerdings war die mexikanische Regierung bankrott und hatte es sehr schwer, die Länder im Norden, die tausende Meilen entfernt von Mexiko-Stadt waren, zu regieren. Nachdem Polk gewählt war, bestätigte der Kongress den Anschluss von Texas. Polk schritt weiter voran und besetzte einen Teil von Texas, der ebenso von Mexiko beansprucht wurde, und bereitete damit den Weg für den Ausbruch des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges am 25 April 1846. Mit amerikanischen Erfolgen auf dem Schlachtfeld im Sommer 1847 wurde der Ruf nach der Annektierung von „Gesamt Mexiko“ laut, insbesondere unter den Demokraten im Osten, die der Meinung waren, Mexiko in die Union einzufügen, sei der beste Weg, um den Frieden in der Region nachhaltig zu sichern. Diese These wurde hauptsächlich deshalb kontrovers diskutiert, weil der Anschluss Mexikos bedeuten würde, dass man dabei Millionen von Mexikanern die amerikanische Staatsbürgerschaft zuteilwerden ließe. Der Senator John C. Calhoun aus South Carolina war aus ethnischen Gründen gegen eine Annektierung Mexikos. In einer Rede sagte er: „Wir haben niemals davon geträumt, in unsere Union eine andere als die weiße Rasse aufzunehmen – die freie weiße Rasse. Mexiko aufzunehmen, wäre der erste Fall …. bei dem die indianische Rasse aufgenommen werden würde; mehr als die Hälfte aller Mexikaner sind Indianer und die andere setzt sich vornehmlich aus verschiedenen Stämmen zusammen. Ich protestiere gegen eine Union in dieser Form. Unsere Regierung, Sir, ist die Regierung der Weißen….. Es ist ein großer Fehler.“ 1845 schickte Präsident Polk den Diplomaten John Slidell mit dem Versuch nach Mexiko Stadt, die mexikanischen Gebiete Oberkalifornien und Santa Fe in Neu-Mexiko zu kaufen. Polk autorisierte Slidell im Gegenzug, die 4,5 Millionen Dollar, die Mexiko den Amerikanern als Reparationszahlungen aus dem mexikanischen Unabhängigkeitskrieg schuldete, zu erlassen und noch einmal weitere 25 bis 30 Millionen Dollar für die zwei Gebiete zu bezahlen.
Sprecher 3 “Jeder Mensch ist schlecht erzogen“, schrieb Wallace Nutting einst. „Das meiste, was wir wissen sollten, wird nicht gelehrt.“ Nutting war dazu bestimmt, das, was das Beste am alten Amerika war und was er verschwinden sah, aufzuzeichnen, wiederzubeleben und zu erhalten. Er begann darzustellen, was er innen und außen als „das schöne Amerika“ beschrieb. Im Platindruckverfahren nahm er zwanzigtausend Bilder mit typischen Szenen aus dem ländlichen Amerika in unterschiedlichen Staaten auf. 1904 eröffnete er das Wallace Nutting Kunstdruck Studio in der 23. Straße East, in New York. Ein Jahr später zog er mit seinem Geschäft auf eine Farm in Southbury, Connecticut. Er nannte diesen Ort Nuttinghame. Seine handkolorierten Fotos waren bald so gefragt, dass er Koloristen einstellen musste, die ihm halfen. Nutting war inspiriert von der transzendentalistischen Literatur der damaligen Zeit, wie beispielsweise den Schriften von Thoreau, in denen versucht wurde, die Verbindung zwischen Mensch und Natur wiederzufinden. Er sah seine eigene Arbeit als eine Art spirituelle Wiederherstellung für den Geist eines Landes, von dem er dachte, es würde verschwinden. Mit dem Aufstieg der Industrie in den Vereinigten Staaten nahm auch die Vielfalt und Fülle von Waren zu; es gab Kaufhäuser und Versandkataloge. Nutting sah in diesem Fortschritt einen Vorteil und dachte, dass er in dieser Phase seine Fotografien jedermann zugänglich machen könnte und damit helfen würde, das Wissen über die Schönheit des Alten Amerika zu bewahren.
Sprecher 1 Am 25. April 1846 griff eine zweitausend Mann starke mexikanische Reitereinheit eine amerikanische Patrouille an, die mit dreiundsechzig Mann in das umstrittene Gebiet nördlich des Rio Grande und südlich des Flusses Nueces ausgesandt worden war. Einige Überlebende kehrten nach Fort Brown zurück. In seiner Botschaft an den Kongress am 11.Mai 1846 verkündete Polk, dass Mexiko „in unser Gebiet eingefallen ist und amerikanisches Blut auf amerikanischem Boden vergoss.“ In einer gemeinsamen Sitzung bestätigte der Kongress die Kriegserklärung, wobei die Demokraten aus dem Süden den Krieg besonders unterstützten, da sie in einem Anschluss Mexikos eine Möglichkeit sahen, weitere Sklavenstaaten hinzuzugewinnen. Nur einige stimmten gegen diese Maßnahme, so auch die Abgeordneten Abraham Lincoln und John Quincy Adams. Adams sah in dem Krieg mit Mexiko einen weiteren Weg für die Südstaaten, die Sklaverei auszudehnen. Er sagte: „Was den Mord an den Mexikanern auf ihrem eigenen Boden angeht oder den Raub ihres Landes, so kann ich davon ausgehen, dass andere das übernehmen. Ich werde daran nicht teilnehmen.” Die Vereinigten Staaten erklärten Mexiko am 13. Mai 1846 den Krieg. Am 9. Januar 1847 fochten sie die Schlacht von La Mesa, die zum Fall Kaliforniens führte. Der Krieg konnte jedoch nicht gewonnen werden, sollten die Vereinigten Staaten nicht in Mexiko-Stadt einmarschieren.
Sprecher 2 Einige Wochen nach Hattos Tod postete ein Yahoo! Music Newsgroup-Teilnehmer die folgende Nachricht:
Die meisten von Hattos Aufnahmen gaben einen obskuren Dirigenten an, Rene Kohler, und das National Philharmonic Symphony Orchestra, das nirgendwo sonst auftauchte. Eine Biographie Kohlers, die Hattos Ehemann zur Verfügung stellte, erschien irgendwann online. In ihr wurde Kohler als polnisch-französisch-deutscher Jude beschrieben, der Treblinka überlebt hatte und dann unglücklicherweise fünfundzwanzig Jahre im Sowjetischen Gulag verbringen musste – sein Name und der seines Orchesters fanden in keiner Referenzschrift Erwähnung. Die verblüffende Biographie des Dirigenten führte nur noch zu weiteren Fragen. Gab es Kohler wirklich? Und falls Kohler und das National Philharmonic Symphony Orchestra Geister wären, wer waren dann der Dirigent und die Mitwirkenden auf diesen Aufnahmen? Ein deutscher Musikfan, Peter Lemken, versuchte die Angelegenheit weiter zu untersuchen und machte dabei skeptische Andeutungen im Internet. Lemkens Verdacht über Hatto basierte größtenteils auf seiner Skepsis gegenüber Rene Kohlers Biographie. Laut Hattos Ehemann hatte Kohler vor dem Zweiten Weltkrieg Musik an der Jagiellonen-Universität in Krakau studiert. Dann, so behauptet die Biographie weiter, „studierte er privat bei dem Pianisten Stanislaw Spinalski in der polnischen Hauptstadt, weil er auf Grund seiner jüdischen Herkunft nicht auf dem Konservatorium zugelassen wurde. Seine linke Hand wurde 1940 von einem jungen deutschen Offizier irreparabel gebrochen. Er überlebte das Ghetto, wurde aber im Sommer 1942 nach Treblinka deportiert.“ Außer diesen Aufzeichnungen existierte nichts über einen Studenten namens Rene Kohler, wie Lemken 2006 auf Anfrage von der Jagiellonen-Universität erfuhr. Dazu kam, dass die Universität nie eine Musikabteilung besaß. In einer Usenet Diskussion schrieb Lemken: „Welchen beschränkten Geist muss man besitzen, um eine gefälschte Holocaust Überlebensbiographie zu erfinden?“ Die endgültige Auflösung des Rätsels um Hatto kam, als der Musikfan Brian Ventura aus Mount Vernon, New York, einige Wochen nach Joyce Hattos Tod, eine ihrer CDs in seinen Computer schob. Das Stück waren Liszts Transzendentale Etuden. Die iTunes Musikbibliothek identifizierte die Aufnahme als die eines anderen Interpreten, nämlich des ungarischen Pianisten László Simon. Der Leser informierte Jed Distler, Redakteur beim Gramophone Magazin, darüber. Ein weiterer Vergleich der Aufnahmen zeigte, dass sie identisch waren. Zur gleichen Zeit führten die Musikwissenschaftler Nicholas Cook und Craig Sapp am Zentrum für Geschichte und Analyse von Musikaufnahmen (CHARM) an der Universität London vergleichende Studien von Aufführungen ausgewählter Mazurkas von Chopin durch. Dabei benutzten sie eine Software, die die Übereinstimmungen zwischen zwei Aufnahmen mit farbigen Graphiken darstellte. Obwohl Cook und Sapp nicht mit vertraut Hatto waren, schlossen sie sie in ihre Studien ein, da sie zu den wenigen Pianisten gehörte, die die kompletten Mazurkas aufgenommen hatten. Sie fügten also zwei Stücke von ihrer CD Chopin: Die Mazurkas zu ihrer Datenbank hinzu. Digitalanalysen der Aufnahmen haben eindeutig gezeigt: die Hatto Version und eine Aufnahme von 1988 von Eugen Indjic, einem in Belgrad geborenen Solisten, waren identisch. Eine Google Suche bestätigte, dass es beide Pianisten tatsächlich gab und Indjic kurz vorher in Polen gespielt hatte, was den unumgänglichen Eindruck hinterließ, dass einer von beiden ein Plagiator war. Der kontextuelle Beweis deutete unvermeidbar auf Hatto hin. Als Hattos Ruf kippte, tat Barrington-Coupe was er konnte, um den Schwindel zu leugnen. Konfrontiert mit James Inverne, einem weiteren Redakteur von Gramophone, sagte er, er sei bereits gewarnt worden, dass das Magazin eine Geschichte haben will und von dem Laszlo Simon Duplikat wüsste, die Übereinstimmungen jedoch nicht erklären könnte. Seitdem haben Studien von professionellen Tonanalysten bestätigt, dass das gesamte Joyce Hatto Oeuvre aus den Jahren nach 1989 von den CDs anderer Pianisten gestohlen wurde. Das ist in der klassischen Musikgeschichte ein Skandal sondergleichen. Frau Hatto stahl normalerweise von jüngeren Künstlern, deren Namen noch unbekannt waren. Ihre Aufnahme der Mazurkas von Chopin scheinen von Eugen Indjic zu sein; ihre Interpretation von Leopold Godowskys extrem schwierigen Bearbeitungen von Chopin Studien sind in Wahrheit Aufnahmen von Carlo Grante und Marc-André Hamelin; ihre Messiaen Aufnahmen sind von Paul S. Kim; ihre Version von Bachs Goldberg Variationen sind - zumindest teilweise - von Pi-Hsien Chen; die gesamte Ravel Klaviermusik, die sie veröffentlichte, ist von Roger Muraro. Die Plagiat-Liste wird immer länger, je weiter man ins Detail geht.
Sprecher 3 Nutting überführte seine Obsession für die amerikanische Kolonialzeit und die natürlichen Landschaften des nördlichen Neu-Englands in ein kommerzielles Unternehmen. Neben einer religiösen Prägung besaß Nutting einen stark ausgeprägten Geschäftssinn und versah all seine Bilder von Beginn an mit seinem Copyright. Bereits 1904 begann er Kataloge mit seinen Fotografien zu veröffentlichen. Er schrieb von sich stets in der dritten Person: „Wallace Nuttings Bilder haben ihren Ursprung in der Liebe eines Amateurs für die Schönheit unserer unvergleichlichen Landschaften.“ Im Jahr 1908 fertigte er einen weiteren Katalog, und 1910 und 1912 erschienen noch umfangreichere Kataloge von ihm. Der letzte enthielt achthundert Bilder. Als seine Geschäftstätigkeit in den 1920er Jahren ihren Höhepunkt erreichte, beschäftigte er zweihundert Koloristen.
Sprecher 2 Joyce Hattos Ehemann, Barry Barrington-Coupe, leugnete die Plagiatsvorwürfe mit allen Kräften und behauptete stets, die Aufnahmen seiner Frau seien echt. Sie sei die „einzige Pianistin auf diesen Aufnahmen“, erklärte er in einem Interview mit dem Daily Telegraph und fügte hinzu, dass er „bei all diesen wichtigen Aufnahmeterminen“ in seiner Funktion als Toningenieur dabei gewesen sei. „Warum sollte ich den Namen meiner Frau darunter schreiben, wenn das alles eine Fälschung wäre?“, meinte er weiter. „Ich hätte einen anderen Namen genommen, beispielsweise einen russischen, und damit zehn Mal so viel verkaufen können. Die Engländer mögen Erfolg nicht.“ Barrys Ton änderte sich, als die Daily Mail eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung im Jahr 1966 aufdeckte, für die er ein Jahr im Gefängnis saß. Zu dieser Zeit rügte der Richter ihn und die vier Mitangeklagten: „Das war unverfrorener und unverschämter Betrug, der ziemlich ungeschickt durchgeführt wurde. Noch schlimmer aber war Ihre Arroganz, zu glauben, dass Sie selbst clever genug wären, damit so einfach davonzukommen.“ Als sein erstes Vergehen ans Licht kam, war Barry in einem Brief an den Geschäftsführer eines schwedischen Labels, das Laszlo Simons Liszt-Aufnahmen veröffentlicht hatte, kurz vor einem Geständnis. Er vertrat die Linie: “Ich tat es für meine Frau“ – als ob sie beide Opfer gewesen wären. Er gab an, kleine Stücke anderer Aufnahmen entliehen zu haben, um damit technische Probleme auszugleichen. Laut Barry, hätte Hatto alle Stücke selbst eingespielt, aber über der Aufnahme hätten verschiedene, unbeabsichtigte Geräusche gelegen, die durch die Schmerzen ihrer fortschreitenden Krebskrankheit hervorgerufen worden wären. Also hatte er nach Aufnahmen von Künstlern gesucht, die einen ähnlichen Stil wie sie spielten, und die Teile in ihre Arbeit eingefügt. „Meine Frau wusste absolut nichts, dass ich das tat“, schrieb er. „Ich habe ihr lediglich…. die fertige Bearbeitung vorgespielt, von der sie glaubte, dass es gänzlich ihre eigene Arbeit war.“ Im Übrigen war Barry tatsächlich schon während der 50er und 60er Jahre in einen bestimmten musikalischen Betrugsfall verwickelt, der zu dieser Zeit in England und Amerika recht verbreitet war. Er bestand darin, dass authentische Aufnahmen gestohlen und unter einem neuen Billiglabel mit fiktivem Namen von Interpreten und Orchestern wiederveröffentlicht wurden. Die Künstler solcher Aufnahmen, die für etwa einen Dollar pro Stück verkauft wurden, trugen kunstvolle Pseudonyme – Paul Procopolis, Giuseppe Parolini, die Cincinnati Pro Arte Philharmoniker, die Münchener Staats Symphoniker – und Barrys eigenes Pseudonym, das geistreichste von allen: Wilhelm Havagesse (dirigierte das erfundene Züricher Stadtorchester, das Rimsky-Korsakows Scheherazade spielte).1 In der Absicht, das unzureichende Talent seiner Frau etwas aufzubessern, benutzte Barry seines und dachte sich die perfekte Pianistin aus, stellte ihre Meisterhaftigkeit in mehr als hundert CDs zur Schau und gab ihr den Anschein ein Jahrhundertwunder zu sein.
Sprecher 1 Unter General Winfield Scott blockierte Präsident Polk mit einer zweiten Armee den Seehafen von Veracruz, um eine Invasion in das Landesinnere von Mexiko zu starten. Zwölftausend Freiwillige und ordentliche Soldaten luden erfolgreich Vorräte, Waffen und Pferde in der Nähe der befestigten Stadt ab, die so gut sie konnte, mit ihrer eigenen Artillerie reagierte. Die ausgedehnte Blockade zerstörte den Willen der Mexikaner, gegen eine zahlenmäßig überlegene Macht zu kämpfen, und so gaben sie die Stadt nach zwölf Tagen Belagerung auf.
Scott marschierte mit 8.500 Truppen westwärts nach Mexiko-Stadt, während General Santa Anna eine Verteidigungsposition auf halbem Weg vor Mexiko-Stadt in einem Canyon, nahe der Hauptstraße vor dem Dörfchen Cerro Gordo, einnahm. Aufgrund strategischer Fehler wurden Santa Anna und seine Truppen jedoch besiegt. Während die Mexikaner über eintausend Tote und dreitausend Gefangene zählten, erlitt die Armee der Vereinigten Staaten vierhundert Opfer. Mexiko-Stadt wurde im September mit der Schlacht von Chapultepec eingenommen und anschließend besetzt. Winfield Scott erlangte nach seinen Siegen im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg den Ruf eines amerikanischen Nationalhelden und wurde später Militärgouverneur vom besetzten Mexiko-Stadt. Während dieses Konfliktes verlor Mexiko nahezu die Hälfte seines Territoriums und zahlte damit einen enormen Tribut an den Krieg. Der Vertrag von Guadalupe Hidalgo, des amerikanischen Diplomaten Nicholas Trist, vom 2. Februar 1848, beendete den Krieg und gab den Vereinigten Staaten die unangefochtene Kontrolle über Texas, bestimmte mit dem Rio Grande die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko und überließ die Staaten Kalifornien, Nevada und Utah, Teile von Colorado, Arizona, Neumexiko und Wyoming bis zum heutigen Tag den Vereinigten Staaten. Im Gegenzug erhielt Mexiko einen Betrag von $15.000.000 – weniger als die Hälfte, die die Vereinigten Staaten für das Land vor Eröffnung der Kriegshandlungen Mexiko angeboten hatten – und die Vereinigten Staaten stimmten zu, die $3.25 Millionen zu übernehmen, die die mexikanische Regierung der amerikanischen Bevölkerung schuldete. Diese Übernahme wurde kontrovers diskutiert, insbesondere unter den amerikanischen Politikern, die von Anfang an gegen den Krieg gewesen waren. Der Whig Intelligencer, eine führende amerikanische Zeitung, folgerte sarkastisch: “Wir haben nichts aus der Eroberung mitgenommen …. Gott sei Dank.“ Der Kongressabgeordnete Abraham Lincoln warf Präsident Polk vor, „der Krieg sei unnötigerweise und verfassungswidrig vom Präsidenten der Vereinigten Staaten begonnen worden“. Ralph Waldo Emerson lehnte den Krieg „als ein Mittel, das Amerikas Schicksal bestimmen soll“, ab, fügte jedoch hinzu, dass „die meisten der großartigen Erfolge in der Geschichte über verwerfliche Mittel errungen wurden.“ General Grant, der die Truppen während des Krieges geführt hatte, sagte später: „bis heute sehe ich den Krieg als eines der ungerechtesten Mittel an, das eine stärkere gegen eine schwächere Nation einsetzen kann. Ich habe immer geglaubt, dass wir auf unserer Seite am ungerechtesten waren.“ Grant vertrat außerdem den Gedanken, dass der Krieg gegen Mexiko Gottes Strafe in Form des Amerikanischen Bürgerkrieges über die Vereinigten Staaten brachte: „Die Rebellion im Süden war größtenteils eine Folge des mexikanischen Krieges. Nationen wie Individuen werden für ihre Verfehlungen bestraft. Wir haben unsere Strafe mit dem grausamsten und teuersten Krieg der Gegenwart erhalten.“
Sprecher 3 Wallace Nutting starb 1941. Er hatte zu diesem Zeitpunkt eine der erfolgreichsten Domänen für dekorative Kunst in den Vereinigten Staaten geschaffen. Seinen Aufzeichnungen zufolge hatte er zehn Millionen Originalfotografien verkauft. Das ist das Meiste, was jemals in der Geschichte von einem Künstler erreicht wurde, ob kommerziell oder nicht. Heute sind viele Exemplare der Kolonialmöbel, die Nutting produziert hatte und die meist nachgemachte Fabrikate in vermeintlich authentischem Stil sind, mehr wert als die echten Stücke, die tatsächlich aus der Kolonialzeit stammen. Aber sein Einfluss ging über den kommerziellen Erfolg hinaus. Nutting hörte nicht auf, die Moral mit seinen Bildern zu predigen und das Objektiv seiner Kamera mit in seine Kanzel zu nehmen. Er predigte von einem Amerika, das nie existierte, aber eines von dem er sich wünschte, dass es existiert hätte. Seine Fotografien beschrieben die traditionellen Muster von Verhalten und Gestaltung, die das vorstädtische Amerika hervorbrachte, verbreiteten Misstrauen gegenüber den neu angekommen Einwanderern und brachten ein kollektives Gedächtnis für die Nation hervor, die noch zu jung war, um schon eines zu besitzen. Nutting war der Vater von Americana, dieser eigentümlichen und in den Vereinigten Staaten weit verbreiteten romantischen Vorstellung von einer huldvollen nationalen Vergangenheit und einer Entwicklung Amerikas, die ein wunderschönes Märchen ist. Sein Vermächtnis findet man noch immer in vielen erfolgreichen Geschäften, die die amerikanischen spießigen Schönheitsideale vertreten. (Auf dem Monitor wird ein Bild des Magazins Martha Stewart gezeigt.)
Sprecher 2 Nach Hattos Krebstod im Alter von 77 Jahren, am 30. Juni 2006, wurden in Todesanzeigen und Ehrungen die markantesten Superlative aufgegriffen („eine perfekte Pianistin, wie es niemals zuvor eine gab, seit es Musikaufnahmen gibt“, „ein Schatz der Nation“). Ihr Mann organisierte ihre weltliche Beisetzung, die im Krematorium in Cambridge stattfand. Die Trauernden hörten Musik – Bach, Brahms, Chopin, Debussy – von einem von Hattos Samplern, der einige Monate vorher von Concert Artists herausgebracht worden war. Demut war das Thema, das Barry für seine Ausführungen vorbereitet hatte. Diese begannen mit einer Entschuldigung an seine Frau. Denn entgegen ihrem Wunsch, wurde ein Gottesdienst gehalten und somit aus „ihrem letzten öffentlichen Auftritt“ eine Zeremonie. Als Künstler und Lehrer sagte er: „sie würde sagen, ... es gibt Gott, den Schöpfer und Dich. Nichts steht zwischen dem Schöpfer und dem Zuhörer. Bei Joyce werdet ihr vergeblich nach Prahlerei suchen – keine gewaltigen ‘Hatto’ Momente, was zählt ist allein die Musik.“
Sprecher 1 O’Sullivan beendete seinen Artikel von 1839 mit den folgenden Worten:
Sprecher 2 Was hat es mit den Bildern auf sich, die wir von uns selbst konstruieren? Und mit dem Weg, den wir dabei gehen, indem wir die Welt übernehmen, um diese Bilder anzupreisen?
Sprecher 3 Sei es mit Gewalt oder gutwillig, der Utopia-Virus findet einen Weg, uns mit Hoffnungen und Idealen zu infizieren, die falsch, unbegründet und in der Fantasie oder der Ablehnung verwurzelt sind. Aber ihr gemeinsamer Nenner ist der, dass sie sich an etwas in uns wenden, von dem wir unbedingt wollen, dass es existiert; an unsere unausgesprochen Wünsche, die uns helfen, die Wirklichkeit mit rosaroter Brille zu sehen.
Sprecher 1 Wir wollen sie. Manchmal nerven sie uns oder wir misstrauen ihnen, aber sie sind so verführerisch, dass wir ihrer Attraktivität meist erliegen.
Sprecher 2 Und wenn wir es einmal tun, dann sind wir ein Teil von ihnen, wir werden Mitverschwörer, Darsteller ihrer geplanten Fiktionen.
Sprecher 3 Wir erlauben, dass unsere Welt mit dubiosen Mitteln konstruiert wird, aber wir versuchen auch, dies vor uns selbst zu rechtfertigen, weil es eben so ist und weil es auch schon immer so war,
Sprecher 1 und wer sind wir, dass wir das ganze betrügerische System auf uns nehmen? Wir sind so klein und ES ist so übermächtig.
Sprecher 2 Wenn wir das annehmen, akzeptieren wir auch die Trennung von Ursache und Wirkung und Vergangenheit und Gegenwart und die Vereinigung von richtig und falsch.
Sprecher 3 So sind wir – voller Widersprüche – und möglicherweise ist es unsere offenkundige Bestimmung als Gesellschaft, dass wir uns ständig in das Neueste verlieben,
Sprecher 1 nachdem wir betrogen wurden und schmerzhaft von unserem Trugschluss verletzt worden sind,
Sprecher 2 erwarten wir ungeduldig, dass das nächste Täuschungsversprechen kommt und uns zumindest kurzzeitig Befreiung verschafft,
Sprecher 3 und uns die Geschichte erzählt, dass wir unbedingt ehrlich sein wollen,
Sprecher 1 aber dass wir auch wissen, dass es zu perfekt ist, um wahr zu sein.
Aus dem Englischen von Claudia Winter.
1 Anm. d. Ü.: Laut Wikipedia soll der Name Havagesse von „Have a guess“ abgeleitet sein.
14.01.2013 14:55
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04.02.2020 10:17
Letošní 50. ročník Art Basel přilákal celkem 93 000 návštěvníků a sběratelů z 80 zemí světa. 290 prémiových galerií představilo umělecká díla od počátku 20. století až po současnost. Hlavní sektor přehlídky, tradičně v prvním patře výstavního prostoru, představil 232 předních galerií z celého světa nabízející umění nejvyšší kvality. Veletrh ukázal vzestupný trend prodeje prostřednictvím galerií jak soukromým sbírkám, tak i institucím. Kromě hlavního veletrhu stály za návštěvu i ty přidružené: Volta, Liste a Photo Basel, k tomu doprovodné programy a výstavy v místních institucích, které kvalitou daleko přesahují hranice města tj. Kunsthalle Basel, Kunstmuseum, Tinguely muzeum nebo Fondation Beyeler.
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