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VERLORENES UND WIEDERGEWONNENES PARADIES ODERZeitschrift Umělec 2007/101.01.2007 Alena Boika | paradiesisches | en cs de |
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…als ich den Mitarbeitern unserer Redaktion sagte, wohin ich fahre, lächelten sie alle beim Wort Šargorod – niemand wusste, was das ist, ich selbst hatte Auskünfte darüber lediglich aus einer Pressemitteilung und dürftigen Internetquellen erhalten. Ich erzählte begeistert, dass das eine kleine geschichtsträchtige Stadt in der tiefen ukrainischen Provinz sei, nicht weit entfernt von der aus der Literatur bekannten Stadt Žmerinka (die ebenfalls niemand kannte), in der 8 000 Menschen leben und in der das internationale Festival für zeitgenössische Kunst stattfinden wird (10.-20. August 2006). Die Kollegen wiegten skeptisch den Kopf hin und her und beneideten mich um meine bevorstehende Reise, die auf jeden künstlerisch und abenteuerlustig gesinnten Europäer anziehend wirken muss.
Ankunft und Neuentdeckung Ich gelangte von Prag nach Kiew schneller als von Kiew nach Šargorod. Um drei Uhr nachts stieg ich an der Station Žmerinka aus. Der Bahnsteig war menschenleer. Eine frische Augustnacht. Ich ging durch das trübe Licht der Straßenlaternen hindurch und blickte durch das Fenster des Bahnhofsgebäudes. Gelbe Holzstühle. Einige schlafende Menschen. Alles war so, wie es auch vor hundert Jahre hätte aussehen können. Es schien, als ob die Zeit hier stillstehen würde oder aber einem eigenen, nur ihr bekannten Rhythmus folgend, vorbeifließen würde. Jemand rief mich. Ein rundes, fröhliches Onkelchen setzte mich ins Auto und die Reise begann. Wir fuhren auf einem Feldweg, durch das Fenster huschten Tannen vorbei, es roch nach Kindheit und Abenteuer. Meine Vorfreude auf die Feier, auf das Unbekannte verjagte die restliche, eisige Müdigkeit. Angekommen. Ich wollte niemanden wecken. So saß ich auf der Treppe, hatte den Kopf in den Nacken geworfen und lächelte. Über dem verloren wirkenden Hotelgebäude (das noch aus Urzeiten erhalten war, als Wände unbedingt blau oder grün gestrichen wurden) standen majestätische schwarze Tannen, und der prachtvolle Sternenhimmel (den, wie eine Bekannte auf meine Erzählung hin bemerkte, sie im smogbedeckten Mailand nie zu sehen bekämen) breitete sich aus. Die Vögel testeten zaghaft ihre Stimmen. Julja (Gnirenko, die Koordinato-rin des Projektes) erschien in eine rotkarierte Decke umhüllt. Sie sagte mir, dass alles nach Plan laufe, zeigte mir, wo Wein und Bett zu finden seien, und wieder viel ich in einen kurzen, unruhigen Schlaf. Morgens erwachte ich durch einen Hahnenschrei. Einige Zeit lang versuchte ich, den Wecker abzustellen, bis ich begriff, dass dies kein Handy war – dies waren echte Hähne, und sie krähten. Unter den Tannen und im grünen Gras wanderten scheulose, neugierige Hühner umher. Die Wand der gegenüberliegenden Turnhalle schmückte rosafarbenes, penisförmiges Graffiti. (APL 315) Morgengymnastik, Kaffee, Apfelsine. Ich gehe hinaus, um diese lustige, irreale Welt zu entdecken, die voll ist von absurder Kunst. Auf der anderen Seite der Mauer sehe ich bereits ihre ersten, ganz und gar würdigen Vertreter: Die Helden eines Comics, von talentierten Jungs angefertigt (Psja Krev) – denen sich jedoch dann der ehrwürdige Künstler Il’ja Čičkan (Kiev – Berlin) mit seiner Kritik aufdrängte – „Es gehört sich doch nicht, in Graffiti Sujets aus der Animation zu verwenden“ – und ausrief „Wo bleibt die Entschlossenheit, wo bleibt der Protest?“ Die jungen Künstler schwiegen betreten, doch ihre Helden sind wahrlich wundervoll, und der gesamte sozial-politische Subtext ist bei ihnen zu finden. In der Turnhalle war es geräumig und feierlich – durch die fröhliche Unordnung von Farben, Arbeiten und Objekten. Es war Frühstückszeit, und nur die am meisten mitgerissenen führten ihre Arbeit fort. Wladimir Kolesnikow schaute kritisch über seinen Renaissance-Menschen und fügte ihm einen charakteristischen Strich hinzu. Aus seiner Höhe (von 4,5 Metern) blickte misstrauisch das Porträt des Bürgermeisters auf sie hinab, an dessen eiserne Zähne eine Leiter angelehnt war. Später bewunderte der lebende Bürgermeister mit Freude, doch auch etwas zweifelnd die Arbeit von Il’ja Čičkan. Große Dimensionen sind ein sehr überzeugendes Argument. Im Tor stand in voller Größe der naturalistische Torwart von Lėsi Chomenko (der lediglich aufgrund einer solchen Anordnung wie ein Torwart aussah, später jedoch einiges an sportlicher Aura verlor, als er an die Hauswand versetzt wurde). Die Größe und die Eigenart dieser Künstlerwerkstatt ließen niemanden gleichgültig: Monumentale Tafelmalerei war die Grundform des Ausdrucks. Neben seinen Werken Jesus Christus und der Jungfrau Maria – Arbeiten, die nach Fotografien aus dem Šargoroder Kloster angefertigt wurden – hatte sich Vladimir Seleznew zum Ausruhen hingelegt. Seine Arbeiten forderten dazu auf, die von den Bewohnern oftmals gesehenen Fassaden in einem etwas anderen Licht zu betrachten: Dem der Malerei. Ich ging durch die Turnhalle hindurch und gelangte von der anderen Seite nach draußen. Hunde jagten den staubigen Weg entlang. Junge Mütter mit Kinderwagen spazierten am Friedhof entlang, der mit rosafarbenen und blauen Blumen ausgeschmückt war. Die Sonne schien. Auf dem ältlichen Gebäude des Busbahnhofs lockten die Aushänge unseres Festivals, indem sie langsam eine grüne Farbe annahmen. Gegenüber verkauften stattliche Frauen Wasser- und Honigmelonen und andere Gaben. Neben ihren alten Žigulis knackten die Taxifahrer lässig Sonnenblumenkerne. Nach der dreistündigen Exkursion durch die Stadt (die, was mich sehr überraschte, vom Begründer des Festivals, Aleksandr Pogorel’skij, höchstpersönlich geleitet wurde) bekam ihr ganzes äußerlich anspruchloses, zurückhaltend-gemächliches Leben, bekamen ihre zahlreichen Friedhöfe verschiedener Konfessionen, ihre wunderschönen doch verschwindenden Häuser mit einzigartiger europäischer Architektur – das alles bekam einen ganz neuen Unterton. Und die Idee, die zeitgenössische Kunst in ein kleines Provinzstädtchen zu bringen, in dem sogar die Bäche auf ihrem Weg einschlafen, schien nicht mehr so merkwürdig zu sein. Ein russisches Sprichwort besagt: Wenn man vom Morgen erzählt, so darf man auch den Abend nicht vergessen. Er war erfüllt: Vom Baden unter einem Wasserfall – „auf zum Wasserfall!“ ertönte durch das Lager der auffordernde Ruf von Spider (der Kurator Nikolaj Palažčenko) der, dem Superhelden im rot-blauen Kostüm gleich, es verstand, überall gleichzeitig alles zu schaffen (das Baden seinerseits war erfüllt vom Kreischen Il’ja Čičkans im Adamskostüm), von ausgezeichneten Videos, Wein und Wasserpfeife, und natürlich Gesprächen über Kunst und die Errettung der Nation. Einige Zeit erschrak ich oft durch das Erscheinen des allgegenwärtigen Spider, der sich mit Geschrei auf die arme Julja (Gnirenko) stürzte, doch dann gewöhnte ich mich daran. Julja, eine standhafte junge Frau, reagierte auf jegliches Geschrei mit einem lieben Lächeln, die Arbeit ging weiter. Das war ein wirkliches Team, das stets standhielt und mit allen Schwierigkeiten hervorragend fertig wurde. Und so erreichten sie trotz einiger physischer Schäden – der sonnenverbrannten, fleckigen Haut Juljas und des aufgeschlagenen, mit Pflaster beklebten Kopfes von Spider – das Ende und waren alle über die Resultate der gemeinsamen Arbeit erfreut und erstaunt. …Als ihnen, nachdem viele Tage vergangen waren, klar wurde, was sie erreicht hatten, saßen sie und rauchten vier Stunden lang Wasserpfeife, ohne ein Wort zu sagen. Über die andere Kunst: Die Arbeit mit dem Raum Die Kunst schwappte gleichsam über und wurde auf die Straßen der Stadt hinausgetragen. Es schien, als ob sich jeden Moment ein Mensch mit weit ausgebreiteten Armen und den idealen Formen eines Cinquecento vom Wasserturm stürzen würde. Wladimir Kolesnikow arbeitete aufopferungsvoll bis in die frühen Morgenstunden an ihm, in 10 Meter Höhe, den Kopf in den Nacken geworfen, und wenn er auch das Schaffen der alten Renaissance-Meister nicht wiederholte, so erinnerte er doch in jedem Fall daran. Die seelenlose Oberfläche des Betonturmes verwandelte sich in eine warme, lebende Freske, die im Licht der untergehenden Sonne besonders schön war. Eins der markantesten Projekte wurde im Gebäude der alten Synagoge mit wunderschön erhaltener Architektur – in dem sich jetzt eine stillgelegte Fruchtsaftfabrik befindet – realisiert. In diesem Gebäude mit den zweimeterhohen Wänden, den Bögen, den feinen Linien der Decke, in dem der Geist der Vergangenheit herrscht und der Geruch verarbeiteter Beeren, fand das Projekt von Anna Broše (Frauengeschichten: Lippenlesen) statt. Auf das Glas waren mit roter Farbe die Konturen von Frauenfiguren aufgemalt – die Persönlichkeiten waren leicht zu erkennen (beispielsweise die Heldinnen aus „Die Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka“ von Gogol’, aus dem „Decamerone“ von Boccaccio, die Laura von Petrarca). Über die gesamte Fläche der Synagoge verteilt und von durchdachter Beleuchtung unterstrichen, nahmen die Figuren Leben an und vermehrten sich, indem sie doppelte und dreifache Schatten warfen. Der Effekt wurde verstärkt durch das blutrote Licht, die Farbe der Liebe und des Krieges. Riesige Fässer in Eimerform betonten das Zusammenspiel von Stärke und Eleganz. Als Beispiel für eine präzise Arbeit mit dem Raum kann auch die Fotografie von Il’ja Čičkan dienen, die im Kinotheater untergebracht war. Auf einer absichtlich schlecht gedruckten Fotografie sitzt die ukrainische Künstlerin Mascha Šubina – im leuchtenden Kleid und mit Schal – daneben eine Standvase mit Blumen. An der Wand hängen echte Blumentöpfe mit schwermütigen Ranken, die unvermeidlich Erinnerungen an sowjetische Einrichtungen wecken, an die Auszeichnungstafel und diese ganze Ideologie, die die Frauen dazu brachte, solche Posen einzunehmen – mit stolz erhobenem Haupt einer hellen Zukunft entgegengehen, ungeachtet der schlechten Qualität des Papiers und übrigem. Auch das minimalistische, doch außerordentlich ausdrucksstarke Projekt von Boris Michailow, der an den verschiedensten Orten der Stadt im Format 21, 5 x 29 und 14,5 x 21, 5 Porträts des Festivalveranstalters Aleksandr Pogorel’skij im Profil aufhängte, im Stil von „Verbrecher gesucht“, musste einfach Aufmerksamkeit erregen. Der eigenwillige Verweis auf selbige Auszeichnungstafeln und die subtile Anspielung – die auf die Tradition der Renaissance zurückgeht, als Porträts der Mäzene die Wände der Stadt schmückten – dass man Menschen, die mit Enthusiasmus und Eifer solche Ideen im Bereich der Kunst umsetzen, sicherlich lange suchen muss. Die Stadt als Ausstellungsfläche Der Tag der offiziellen Eröffnung des Festivals wurde zu einem wahren Festtag für alle Bewohner und Gäste der Stadt. In die Lüfte erhoben sich Luftballons (weiße Ballons mit einem blauen Davidsstern – eine Arbeit von Viktorija Begal’skaja) und dem Feuerwerk mit „großkalibrigem Abschuss“ – das ganz und gar dem Künstleransturm entsprach, der über die Stadt Šargorod hereingebrochen war. Die etwas pathetische Performancepredigt „Gesandte des Himmels“, der von den Künstlern der Gruppe RĖP, in kosmische Kostüme gehüllt, gezeigt wurde – in dem es um die Kunst ging, die die Welt retten soll – wurde durch eine scherzhafte Provokation seitens Il’ja Čičkans aufgelockert. Die gesamte Stadt war erfüllt von Kunst – die bislang in der Sporthalle versteckt worden war. Die wunderschöne Malerei fand an den Hauswänden Platz – und sie gewann durch eine solche Installation im freien Raum, ergänzte die Natur und rückte sie in das beste Licht. Die Arbeit von Aleksandr Gnilickij „Kühlschrankreparatur“ beispielsweise fügte sich hervorragend in die Stadtlandschaft ein: Wenn man nur die in den Straßen der Stadt vertretene Malerei betrachtet, so war dies zweifelsohne eins der besten Beispiele eines Dialogs zwischen Kunstwerk und Raum – sowohl in thematischer als auch in technischer Hinsicht (Koloristik, Technik der Ausführung). Das Werk Mascha Šubinas, die ihr Selbstporträt als Bildnis des Todes mit Zopf malte, war umweht von der Geschichte der Stadt und von den Friedhöfen, die sie umsäumten. So wie das „volkstümliche“ Graffiti wurde auch sie von den Šargorodern ins Herz geschlossen, die ihr einen eigenen Titel verliehen: „Der Tod ist wunderbar!“ Maksim Mamsikov wagte eine eigenwillige Reflexion zum Thema Müllkippe – ein Ort, an dem sich das Vergangene mit dem Gegenwärtigen vermengt, die Zeit mit dem Raum, an dem die Geschichte bis in einzelne Atome auseinandergebrochen und zunichte gemacht werden kann. Das Thema der Müllkippe, oder auch eines Aufbewahrungsortes, harmoniert ausgezeichnet mit Šargorod, einer kleinen Stadt mit großer Geschichte, in der es mehr Gräber gibt als Menschen, die sie besuchen könnten. Von diesem Schwund, diesem Versickern des Lebens erzählen die drei fotografischen Serien von Evgenij Umanskij, Sergej Bratkov und Aleksej Plucer-Sarno. Gekrümmte Holztüren, mit Spuren feiner Schnitzarbeit, unebene Stufen, eingeschlagene Fenster… Auch die Arbeit von Vjačeslav Achunov „Totale Inventarisierung“ handelt von dem Versuch, die vorwärts strebende Zeit aufzuhalten, die von den Häusern lediglich die Schlüssel übrig lässt… Bürosessel, die zum Träumen einladen, im Hintergrund die Atompilze von Nikita Kadan – ein Werk, in dem kein Platz für den Menschen ist, – kann als eigensinnige Fortführung desselben Themas gelesen werden. Oder als Angebot: „Setz dich – und sieh. Denk nach.“ Aleksandr Šaburov (Blaue Nasen) hat mit dem Thema der postkommunistischen interethnischen Konflikte gespielt, indem er eine Anekdote verwendet, die er in der Lokalpresse aufgeschnappt hatte: „Du hast einen Moskal’1 umgebracht? – eine Kleinigkeit, aber so angenehm!“ Eine der ethnischen nahe liegende Thematik findet sich auch in der Arbeit von Anna Broše „Der globale Ševčenko“. Porträts berühmter Schriftsteller verschiedenster Länder und Zeiten sind mit üppigen ukrainischen Schnurrbärten geschmückt; es ist bekannt, dass jedes Land seine Eitelkeiten hat, seine „Heimat der Elefanten“.2 Noch ein weiteres Werk von Anna Broše, eine Aufschrift auf der Werbetafel (die anscheinend entweder für Kinowerbung bestimmt war – aber es werden keine Filme gezeigt – oder für Werbung – aber hier gibt es nichts anzupreisen und niemanden, für den es sich zu werben lohnt): „Das Schöne existiert ewig, es erscheint nicht, es verschwindet nicht, es vermehrt sich nicht, es verringert sich nicht…“ Im Kinotheater selbst hat die Arbeit Platz gefunden, die dem Geschmack der Einwohner der Stadt am meisten entspricht: Ein realistisches Graffiti mit Märchenelementen (Erschaffen von den Künstlern Maja und Mischa-Most) und auch Laternen, Häusern und weiteren gewohnten Gegenständen schmückt das Gebäude. „Also, das ist wahre Schönheit!“ riefen die Šargoroder entzückt. Im Gegensatz dazu befremdete das Graffito Apl 315, das an der Mauer der alten Garage angebracht war, nicht nur die Einheimischen, sondern auch die Kritiker aus Kiew. Ein altes Mütterchen, die misstrauisch auf eine riesige gehörnte Figur, die sich über die gesamte Mauer hinzog, blickte, fragte die Künstler „Ist die Farbe abwaschbar?“ Auf die Antwort – warum man solch eine nette Kuh abwaschen sollte – antwortete die Großmutter: „Das ist keine Kuh, das ist ein Teufel – das sehe ich an den Hörnern.“ Doch dieser Dialog ist harmlos im Vergleich zu dem von mir überhörten Gespräch zwischen zwei Journalisten aus Kiew, in dem einer der beiden dem anderen verärgert erklärte, das dies „kein Graffiti, sondern weiß der Teufel was“ sei. „In einem Graffiti sollten nur Buchstaben sein, und zwar farbige. Aber hier – das ist eine Kuh, und auch noch eine schwarz-weiße.“ „Unsere Kinder können besser malen!“ empörten sie sich. Ich lächelte – mir selbst zu, ihnen sowie der wunderschönen, apfelartigen Kuh samt blauem Himmel hinter dem gewaltigen Rücken. Die Projekte in der Garage verdienen es, getrennt aufgeführt zu werden – Mascha Ša, Aleksandr Gnilickij und Lėsja Zajac ist es geglückt, das gesamte Gerümpel, das sie in dem alten Raum gefunden haben, auf gewinnbringende Weise zu nutzen, inklusive eines toten Raben. So wurde das Werk von Lėsja „im Ofen“ gezeigt – eine Projektion auf einen alten Herd, so dass der Eindruck entstand, dass genau dort, in dem flackernden Licht, die Matrix sich öffnete und der Weg in eine andere Dimension frei wurde. Aleksandr Gnilickij bot jedem, der dazu bereit war, an, auf einen Stuhl zu steigen und auf dem Hintergrund einer Projektion mit einer alten Stadt festgehalten zu werden. Die neuste Videoarbeit von Mascha Ša mit Wespen, die eine Wassermelone essen, war inmitten des Zerfalls der Garage besonders saftig anzuschauen. Nachwort Zu Anfang sah ich der Idee der „Kunst für die Massen“ etwas skeptisch entgegen – ich stellte mir vor, wie schockierend die Begegnung mit zeitgenössischer Kunst für die örtliche Bevölkerung sein könnte. Besonders in einem kleinen, verlorenen, oder in jedem Fall versteckten Örtchen – an dem nichts passiert, an dem sich die Gesamtzahl aller Ereignisse der vergangenen sechs Jahre auf zwei beläuft, die dann von allen Mund zu Mund weitergegeben werden: Ein gefrorener Telegrafenmast war umgefallen und hatte das Stromnetz beschädigt, ja, und ein Auto hatte sich auf der eisglatten Straße überschlagen. Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall war niemand zu Schaden gekommen. Es herrschen ungeschriebene, unverbrüchliche Moral und Verhaltensregeln, die alle Einwohner streng befolgen – einfach, weil es nicht anders sein kann. Sie sind ein Stamm von Kindern, listig und treuherzig gut zugleich. Sie waren angesichts der zeitgenössischen Kunst, die sich mit der ganzen Macht ihrer Starbesetzung auf sie stürzte, erschrocken und erstaunt. Sie zweifelten: Was ist das, wofür, ist das gut; sie führten ihre Kinder und Mütter aus dem Kino, damit sie nicht das Video der Blauen Nasen sähen, aber in ihrem Herzen hatte bereits Zweifel gekeimt und die Bereitschaft – nein, noch nicht zu verstehen – aber, was wichtiger ist, anzunehmen. Die wundervolle Arbeit von Mascha Ša „Wer braucht sie?“, ein Video, das in Šargorod gedreht wurde, handelt genau davon: die Künstlerin stellt verschiedenen Leuten ein und dieselbe Frage: Was denken Sie, braucht man Kunst? Die Mehrheit der Menschen ist sich darin einig: „Auch wenn wir sie nicht verstehen, das ist Eure Kunst (und das nur deshalb, weil sie uns nicht erklärt wurde). Natürlich braucht man sie – um Mensch zu sein.“ …Zum Ende meines Aufenthalts hin, und vor allem danach, als ich das aufgezeichnete Material durchsah und alle gewonnenen Interviews analysierte, wurde meine Skepsis von der Begeisterung des Entdeckers abgelöst. Die gesamte futuristische Idee – das Leben mit Hilfe der Kunst zu ändern – wurde mit Sinn erfüllt. Schon jetzt sind die Menschen – die die Arbeiten, die von den Künstlern aus verschiedenen Ländern geschaffen wurden, in ihrer eigenen Stadt gesehen haben, ausgestellt auf der Straße, die sie gewohnheitsmäßig entlanggehen, um Brot zu holen – etwas anders geworden. Ihre Kinder, die Tag und Nacht um das „Kunstlager“ herumscharwenzelten, halfen und sich unterhielten, werden bereits in dem Wissen aufwachsen, dass es noch etwas anderes, etwas mehr gibt als die beiden Fernsehsender, die in ihrer Stadt laufen. In der Stadt fing ein Springbrunnen wieder an zu sprudeln, um den sich schon seit Jahren niemand mehr gekümmert hatte. Lenins Sockel und Bordüre leuchteten in frischem Kalkweiß auf. Es besteht kein Zweifel, dass das langfristige Projekt zur Verwandlung Šargorods mit Hilfe der Kunst Früchte tragen wird. Ich kann nur noch viel Erfolg in der Umsetzung all dessen wünschen, was man sich vorgenommen hat.
01.01.2007
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