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ZWANG ZUM FRIEDEN ODER  Warum ich kein Grashalm sein möchte
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2009, 1
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ZWANG ZUM FRIEDEN ODER Warum ich kein Grashalm sein möchte

Zeitschrift Umělec 2009/1

01.01.2009

Alena Boika | krieg - kaukasus | en cs de es

Als mein Flugzeug am 8. August 2008 auf dem Prager Flughafen landete, riefen mich meine Freunde an und fragten, wo ich denn sei. Ich kam genau an dem Tag aus Georgien zurück, an dem dort der Krieg begann. Der fünftägige Krieg ergänzte die Liste der „weltweit kürzesten Kriege“ oder der „blitzartigen bewaffneten Konflikte des 21. Jahrhunderts“ – in Abhängigkeit davon, wo man die Trennlinie zwischen einem Krieg und einem bewaffneten Konflikt zieht. Ungeachtet dieser „Blitzartigkeit“ erschienen in Moskau schon zwei Wochen nach seinem Ende reich bebilderte Bücher über die Geschichte des Konflikts, die davon berichteten, wie das böse Georgien von Jahr zu Jahr den Genozid an den Osseten vorantrieb, bis die gerechten Russen diesem Treiben endlich ein Ende setzten. Vielleicht ist dem auch so – die Geschichte ist immer in sich widersprüchlich, aber Bücher, die mit einer solchen Geschwindigkeit und derartigen Bildern erscheinen, riechen nach Propaganda. Wie dem auch sei, zu der Zeit, als mein Flugzeug den mir lieben Kaukasus, Russland, Moskau und weitere geopolitische Nuancen hinter sich ließ, flogen georgische Flugzeuge Bombenangriffe auf Südossetien und russische, etwas später, auf Georgien. Alle sagten, dass ich Glück gehabt habe, aber ich dachte nur daran, wie ich versucht hatte, mein Flugticket umzubuchen und wie das nicht möglich war und dass ich jetzt dort sein sollte. Ich kann nicht genau sagen, was das geändert hätte, aber ich konnte nicht einfach weiterleben, als ob der Krieg nicht existierte. Es fing damit an, dass mir in der Moskauer Buchhandlung Falanster eine merkwürdige Zeitschrift ins Auge fiel – „Kriegskunst“. Ich kaufte alle vorhandenen Ausgaben und fing an zu lesen. Portionsweise, da ich diese Kunst schwer verdauen konnte. Jungs auf Panzern, verbundene Köpfe, Schmutz, Blut, amputierte Gliedmaßen, zerfetzte Kinder, Verzweiflung, die gewöhnliche charakteristische Kollektion der Absurdität eines jeden Krieges. Zur gleichen Zeit schlug einer unserer Autoren, Konstantin Rubachin, eine Serie von Fotografien aus Tschetschenien zur Publikation vor. Die Fotos wirkten frisch und munter, im Sinne eines sich durchsetzenden friedlichen Lebens – Menschen, die die allgegenwärtigen Mars, Snickers und Bananen verkaufen, zum Fussball gehen und dort mit lebensfrohen Gesichtern ihre Lieblingsmannschaft anfeuern, Frauen mit Kopftüchern, die ihr Gesicht verbergen und die zerbombten Straßen fegen. Vor den zerstörten Häusern wächst zartes Gras. Nun ja, Gras wächst immer. Ich wollte kein Grashalm sein, ich wollte verstehen und meine Wahrheit finden. Ich wollte verstehen, wie alles angefangen hatte, wie es dazu kam, dass Menschen, die jahrzehntelang friedlich zusammen gelebt hatten, sich auf einmal gegenseitig umbrachten. An die Kunst dachte ich dabei gar nicht so sehr. Aber es war mir wichtig zu verstehen, wie es zu all diesen leeren Blicken kommen konnte und dazu, dass eine von einem Granatsplitter getötete alte Frau auf dem Boden liegt, daneben eine Tasche, in der ein Brot steckt. Offensichtlich kam sie gerade vom Einkaufen zurück – und auf einmal ein Angriff und schon ist sie in der Rubrik „Kriegskunst“. ARMENIEN: BERGKARABACH Ich reiste in den Kaukasus, zuerst nach Armenien, wo 1988 der ethnopolitische Konflikt um Bergkarabach ausbrach, der sich zu einem Krieg zwischen Armeniern und Aserbaidschanern um ein Territorium entwickelte, das bis heute ein nicht anerkannter Staat ist. Dieser Konflikt fungierte als Katalysator und auslösender Mechanismus für die folgenden (mit Ausnahme von Tschetschenien, wo die überall herumstehenden Kanister mit einheimischem „Benzin“ für sich sprechen). In Armenien begegnete mir die strenge Schönheit der Natur und der Menschen, eine aufrichtige unendliche Gastfreundschaft und keinerlei Anzeichen von Fremdenfeindlichkeit oder gar Agression. Sie sind froh, dass sie Bergkarabach und Schuscha haben, einige erinnern sich noch an die Schrecken des Krieges und die schlimme Zeit, als sich das Land in völliger Isolation befand. Aber niemand redet von den „bösen Aserbaidschanern“, nur von den unvernünftigen Hitzköpfen, die diesen blutigen Wahnsinn begonnen hatten. Von der Kunst Bergkarabachs der Kriegszeit ist nicht viel übrig. Wie Ruben Arevshatyan sagte: „Niemandem war so richtig nach Kunst zumute. Und viele wurden auch einfach nicht alt genug“. Wie zum Beispiel der Künstler Alexander Melkonyan (Sasha). Alexander Melkonyan wurde 1952 in die dritte Generation von Militärangehörigen hineingeboren. Nachdem er zunächst den traditionellen Entwicklungsweg eines sowjetischen Künstlers genommen hatte (Künstlerbund, Teilnahme an Ausstellungen auf lokaler und sowjetischer Ebene), schloss er sich 1988 der Karabacher nationalen Bewegung an. 1989 gelangte er an die Spitze der „Schule der Ritter“, die zu Beginn des Krieges in eine Spezialgruppe umgewandelt wurde, die Geheimaufgaben auf „feindlichem Territorium“, d.h. in Aserbaidschan und Bergkarabach erfüllte. Kurz vor Kriegsende 1994 wurde er verletzt und beurlaubt. Von 1995 bis 2000 beteiligte er sich aktiv an Ausstellungen, unter anderem dem armenisch-österreichischen Projekt „Parallele Realitäten“ (Jerewan 2000), „Manifest 3“ in Slowenien, 2001 wurde er mit dem Projekt „Haus eines Mannes und einer Frau“ nach Triest eingeladen. Aus einem Aufsatz von Ruben Arevshatyan: „His return to the art scene in 1995 signified the beginning of a new, quite intensive creative period for the artist. In his actions and installations the artist accentuated the dramatic aspect of the already sharpening focus in the local art situation on the aestheticism and the philosophy of the lonely individual frustrated by ideological and social pressures. He specified his art as „art-military“ as besides the militant theme in his works he has been strictly following the conceptions and structural principles of the „art of war“. But the cardinal difference between his art and the „art of war“ was the shift of concentration from the objective of the militant systematic character to the subjects of the system that reside in state of irrational rush for the object. This dramatic, conflicting correlation of the unit to the whole has been persisting in his 8-meter high pillar of greatcoats – „Royal Infantry“, in the transforming installation „The Birthplace and Grave of the Great Viking“, „Mimicry“, „Super-mobile object“ actions, etc.“ (Ruben Arevshatyan. The Pacified Spirit of Bellicosity: About Alexander Melkonyan, Springerin – 2/2002). Alexander Melkonyan starb im Februar 2002 im Alter von 49 Jahren. Dieser Krieg brachte noch eine ganze Reihe patriotischer Videos hervor, in denen Soldaten mit mutigem Gesichtsausdruck zu den Klängen nationaler armenischer Lieder für die Heimat in den Kampf ziehen. Die meisten sind um das Jahr 2000 entstanden, youtube befriedigt jede Neugier. Die Betrachtung sei besonders den heißblütig und romantisch Veranlagten empfohlen. GEORGIEN: SÜDOSSETIEN Von Armenien aus fuhr ich nach Georgien. Dort, in Tiflis, sah ich die fröhlichsten und bunt gemischtesten Innenhöfe, die man sich nur vorstellen kann. In dem Haus, in dem ich wohnte, herrschten sehr ärmliche Verhältnisse, nirgendwo war auch nur eine Spur jener Stattlichkeit zu sehen, die die armenische Nation kennzeichnet. In unserem Aufgang lebten Georgier, Inguscheten, Armenier, Aserbaidschaner, Tschetschenen, Osseten, Russen. In unruhigen Zeiten nahmen sie einfach ihre Namensschilder von der Tür, damit nicht klar ist, wer wer ist und lebten weiter zusammen und halfen einander. Alle sprechen alle Sprachen und singen in einer sonderbaren Vielstimmigkeit. Besonders abends, wenn die Hitze nachlässt, beleben sich die Höfe. Die Höfe in Zchinwali sahen ganz genau so aus. Bis zum 8. August. Ich kann zu diesem Krieg nichts sagen. Damals waren alle erschüttert. Niemand verstand irgendetwas. Die Rede war von einer amerikanischen Verschwörung, dem Agressor Russland, dem wahnsinnigen Saakaschwili. Bereits am 9. August tauchten im Internet zahlreiche Fotos auf. Diejenigen, die als erste auftauchten, waren die durchdringendsten, schrecklichsten und sie wurden auch die bekanntesten und riefen heftige Diskussionen über Original oder Fälschung hervor. Es handelt sich um die Arbeiten von Gleb Garanitsch und Georg Abdaladse: http://drugoi.livejournal.com/2691106.html#cutid1 Besonderes intensiv wurde diskutiert, wie absurd diese oder jene Leiche bzw. dieser oder jener Verwundete aussieht, dass „früher hier eine Plastikflasche auf dem Foto war, und wo ist die jetzt hin?“ Oder: „Ein völlig verdreckter Junge posiert sorgfältig neben einer Oma, die noch an drei weiteren Stellen liegt. DAS GLAUBE ICH NICHT!!!! Aber die dummen Westler werden’s schon glauben. Interessant, wie sich auf dem zweiten Foto die Leiche an der Frau, die sie trägt, festhält“. (npest.moy.su/forum/42-340-1 )(August 17, 2009 “About the BBCs, Reuters, CNNs and other RTVIs”) An anderer Stelle – http://listopad.livejournal.com/254813.html (Dmitrij Buschuev) – besprechen die Diskussionspartner die empörendsten Elemente auf den ihrer Meinung nach inszenierten Fotos von Georg Abdaladse: „Auf einmal erscheinen in der Kulisse des ersten Bildes auf einem Quadratmeter Erde ein Chirurg mit heruntergerutschter Maske (!), sicher kein Sanitäter, und eine frisch gestärkte Krankenschwester. Auf diesem Quadratmeter Brachland erscheint für den Massencharakter der Szene noch ein dritter Schauspieler! Und warum liegt auf beiden Fotos ein- und derselbe Georgier wie tot da, aber in verschiedenen Haltungen und an verschiedenen Stellen? Was die zweite Aufnahme des zweiten Bildes betrifft, so erkennt selbst eine Hausfrau die Wunder der Inszenierung. Auf dem Quadratmeter haben schon zwei Soldaten Platz gefunden, die einen „verwundeten“ Jungen mit gleichgültigem Gesichtsausdruck tragen (Schockzustand!), und die stimmgewaltige Klagefrau ist schon ruhig beiseite getreten und bereitet sich wahrscheinlich auf die vierte Aufnahme vor. Wobei der linke Soldat auf der Stelle steht, während der zweite schon losläuft“. Gibt es darin ein wahres Element? Ein künstlerisches Element gibt es zweifellos. Die Betrachter ergehen sich in einer Diskussion, woher welches Bein ragt und wollen nicht glauben, dass Blut keine Farbe ist. Dass zerstörte Häuser keine Dekoration sind. Dass es allgemein schwierig ist festzulegen, wie genau das Gesicht eines Menschen im Schockzustand aussieht und wie ausdrucksvoll oder teilnahmslos er sein Leiden dabei ausdrückt. Wenn irgendjemand auf dem Foto ein vom Wahnsinn verzerrtes Lächeln auf den Lippen hätte, würde das die Diskussionspartner sicher freuen. Die Situation steigerte sich bis ins Komische. Die Empörung der russischen Blogger über die gefälschten Fotos war so groß, dass sie eine Zensur im Internet forderten, die die bewusst falschen antirussischen Meldungen und Stimmungen stoppen sollte. http://newsru.com/russia/10aug2008/livejournal.html UNTERDESSEN IN OSSETIEN Krig42 – Dmitrij Steschin krig42.livejournal.com/2008/08/15/ Allen, die über das schlecht oder wenig zerstörte Zchinwali sprechen, zur Kenntnisnahme: Ich habe auf dreißig Filmen eine „virtuelle Exkursion“ durch Zchinwali aufgenommen. Ich bin auf einem Panzer von Nord nach Süd und von West nach Ost durch die ganze Stadt gefahren und habe ohne Unterbrechung gedreht. Ich habe die Keller aufgenommen, in denen Menschen starben. Ich habe aufgenommen, wie aus einem Grab in einem Garten eine Frau und zwei Kinder ausgegraben wurden. Ich habe ein Auto aufgenommen, in dem zwei Kinder verbrannten. Ich habe die stinkenden Keller des städtischen Krankenhauses aufgenommen. Ich denke, dass euch diese Aufnahmen beeindrucken werden. Aufgedunsene Leichen und das verbrannte Bein eines georgischen Panzerfahrers, ich stelle sie ins Netz, wenn ich nach Hause komme. ANSTELLE EINES NACHWORTS Als wir die Fotos aussuchten, zuerst aus Tschetschenien, sagte meine Kollegin, dass jede Stadt nach einem Krieg ungefähr so aussehe. Danach aus Zchinwali, die gleichen verkohlten Ruinen, einige kann man mit den Folgen des Erdbebens vergleichen, die ich in Armenien in Gjumri gesehen hatte. Ich dachte, nun ja, ein romantischer Blick wird sich immer auf eine schöne Landschaft am Horizont konzentrieren, in der die Überreste von Häusern liegen. Danach sah ich mir die Fotos der ermordeten Menschen an. Viele verschiedene Menschen, die auf viele verschiedene Arten umgekommen waren. Und dachte, ja gut, aber wir sind eine Kunstzeitschrift. Die Leichen aus Ossetien unterscheiden sich in keiner Weise von den Leichen aus Tschetschenien oder Gaza. Sie sind alle gleich – viel Blut, Hässlichkeit, Leiden. Keine Kunst, nur die nackte Wahrheit des Lebens. Ich dachte: „Kriegskunst“, wer sich diesen Begriff bloß ausgedacht hat und was sich dahinter verbirgt – Fotos von zerstörten Häusern und verstümmelten Körpern, die Reflexionen der Künstler zu diesem Thema? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nach wie vor nicht. Einen Tag vor Beginn des Krieges fuhr ich nach Batumi, von wo aus ich, in merkwürdigen, politikfernen Illusionen, hoffte nach Suchumi zu gelangen, nach Abchasien und von dort in den Nordkaukasus, nach Tschetschenien, Inguschetien und zurück in den Süden, über Dagestan nach Aserbaidschan. Damals waren meine Vorstellungen von Krieg völlig weltfremd. Jetzt, da mich die Informationen geradezu erschlagen haben, möchte ich dorthin zurückkehren. Ich weiß nicht, was sich ändert, wenn in unserer Zeitschrift eine ständige Rubrik „Kriegskunst“ erscheint, ich weiß nur, dass ich kein fröhlicher grüner Grashalm sein kann.




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