Zeitschrift Umělec 2008/2 >> Nachkriegsträume aus Sarajevo | Übersicht aller Ausgaben | ||||||||||||
|
|||||||||||||
Nachkriegsträume aus SarajevoZeitschrift Umělec 2008/201.02.2008 Michal Koleček | bosnien | en cs de es |
|||||||||||||
Interview mit Šejla Kamerić anlässlich ihrer Einzelausstellung in der Emil Filla Galerie in Ústí nad Labem, von Michal Koleček
Šejla, du lebst momentan in Berlin. Kannst du die Position einer Künstlerin zwischen den Gesellschaften im Westen und Osten beschreiben? Ich bin dank dem DAAD-Stipendium «Artists in Residency» nach Berlin gezogen, das ich 2007 erhalten hatte. Meine Entscheidung, herzukommen, war pragmatisch, wie bei so vielen anderen Künstern aus der ganzen Welt. Berlin hat KünstlerInnen ganz bewusst angezogen und dadurch eine Art Cluster geschaffen. Es ist eine wirklich einmalige Situation, die die Position eines Künstlers darin sehr inspirierend macht, aber es ist kein repräsentatives Beispiel der Position eines Künstlers in der westlichen Gesellschaft im Allgemeinen. Könntest du den heutigen institutionellen Rahmen für bildende Kunst in Sarajevo beschreiben? Es gibt nicht wenige Institutionen in Sarajevo, die sich mit bildender Kunst beschäftigen, aber es gab nie eine definierte Kulturpolitik, um deren Aktivität zu unterstützen. Alle kämpfen sie heute um ihr Überleben, hauptsächlich wegen finanzieller Schwierigkeiten. Das ist eine recht traurige Situation, umso mehr als individuelle Initiative das Problem nicht lösen kann. Es bräuchte eine breitere politische Solidarität, was in der aktuellen politischen Wirklichkeit in Bosnien sehr schwierig zu erreichen ist. Arbeitst du noch mit einer Institution in Sarajevo zusammen? Ich stehe in enger Verbindung zum Sarajevo Center of Contemporary Art und dessen Produktionsstudio pro.ba. Ich bin dem SCCA und Dunja Blažević für ihre Unterstützung all die Jahre über sehr dankbar. Sie arbeiten unter sehr schwierigen, fast schon beschämenden Umständen, sind aber trotzdem extrem hilfsbereit zu KünstlerInnen und FilmemacherInnen in Bosnien-Herzegowina. Könntest du die aktuelle Situation in der bosnischen Kunst mit der frühen Nachkriegsphase in der zweiten Hälfte der Neunziger vergleichen? Zuvor waren wir «dank» dem Krieg viel mehr vom Geschehen ausgeschlossen. Heute sind einige KünstlerInnen aus Bosnien-Herzegowina in der internationalen Kunstszene präsent, aber «zuhause» geschieht nicht viel, um sie, oder was noch viel wichtiger wäre, die künftigen neuen Talente zu unterstützen. In deinen Kunstprojekten kann man oft dokumentarische Prinzipien erkennen. Könntest du die Art und Weise beschreiben, mit der du «echtes» Material mit den ästhetischen und poetischen Strukturen deiner Arbeiten verbindest? Ich versetze das «echte» Material in eine neues Umfeld, einen neuen Kontext, und so versuche ich es verschiedenen Lesarten auszusetzen. Oft schafft die einfachste Art die stärksten Empfindungen. Früher nannte ich es «Copy-paste»-Methode, heute stelle ich es mir als «Re-membering» vor. Es ist wie wenn man sich eine Sache so vorstellt, also ob sie eine deiner Erinnerungen wäre. Ein Gegenstand reicht, um dir vergessene Gefühle wiederzubringen. Vorstellungskraft ist, die Lücken der Erinnerung zu füllen. Deine Arbeiten sind bekannt für die filmischen Effekte und Profile. Wo fühlst du die Grenze zwischen Filmemachen und Videokunst? Ist diese Unterscheidung wichtig für dich? Um diese Grenzen in der Kunst kümmere ich mich einfach nicht. Ich sehe keinen Grund, verschiedene Medien in der Kunst strikt zu definieren, es geht ja nicht um Wettbewerb, nicht mal um Vergleich. Ich liebe Film, und das hat meine Arbeit natürlich beeinflusst. Es ist aufregend, verschiedene Instrumente und Sprachen zu verwenden, um Emotionen einzufangen und Geschichten zu erzählen, und so ein breiteres Publikum zu erreichen. Das Thema «Narben» kehrt in deinen neuesten Arbeiten immer wieder. Könntest du den Übergang erklären von direkter künstlerischer Reaktion auf gewisse soziale Mechanismen zu einer intimeren Strategie, die sich auf ihre empathische Reflexion konzentriert? Narben sind schmerzhafte Erinnerungen, wer sie im Gedächtnis hat, kann sie schwerlich auslöschen. Die Ursache anzugehen heißt manchmal bloß, ihre Folgen zu zeigen. Meine Herangehensweise mag anders aussehen, aber es ist immer noch eine sehr direkte Reaktion auf ein gewisses Problem. In deiner Arbeit Wall, die in Ústí nad Labem gezeigt wurde, gibt es ein Moment des Geschichtenerzählens, eine narrative Linie. Wie gehst du mit der Beziehung zwischen einer Erzählung und ihrer Interpretation, die vom zeitlichen Abstand und den sozialen Umständen beeinflusst wird – die die Bedeutung der Erzählung verändern, oder sie klarer und genauer machen könnten? Der Ausganspunkt für diese Arbeit war, als ich mich an Leonid Andrejews Erzählung «Die Wand» erinnterte, die ich vor dem Krieg in Jugoslawien als Teenager gelesen hatte. Die Art, wie die Geschichte sich in meiner Erinnerung veränderte, und wie sehr sie Teil meiner späteren Erfahrungen wurde, war der Schlüssel zur Neuinterpretation. Ich bat die Schauspieler, die Geschichte als ihre eigene zu adoptieren und sie mehr nachzuleben als einfach zu erzählen. Ihre Reaktion war instinktiv. Die Schauspieler verbanden die vorgegebene Geschichte mit ihren eigenen Erinnerungen. Die Geschichte wurde wahr, weil die Gefühle, die sie gaben, echt waren. In der Arbeit We were chilling by the pool when the war started benützt du ein gewöhnliches Bild in Verbindung mit einem bedeutungstragenden Titel. Könntest du mir erzählen, wie das Textmoment, das Sprachliche, in diesem Fall für die Struktur des Kunstprojekts von Bedeutung ist? Das Bild wurde 2005 in Jerusalem aufgenommen, als nach der Entführung zweier israelischer Soldaten durch die Hisbollah Israel den Libanon angriff. Bevor ich das Foto aufnahm, hatte ich schon diesen Satz. Es war die genaue Information, die Realität, die so unwirklich wirkte. Ohne den Text hätte es diese Arbeit gar nie gegeben. Ich spüre, dass deine Arbeiten eine zweideutige Assoziation in sich tragen, sowohl an den menschlichen Wunsch nach Aufstieg wie auch an tragische Selbstzerstörung. Könntest du dieses Moment interpretieren – in Bezug auf die soziale Situation der Nachkriegs-Gesellschaften auf dem Balkan? «Als bedeutungstragende Wesen hinterlassen wir Spuren in unserer Welt und schaffen so unsere Kulturen. Diese Spuren reichen von Bildern und Klängen bis hin zu Wunden und Narben.»* In den Arbeiten Red und Green biete ich Dokumente menschlichen Verhaltens. Ich erkenne an, dass Wunden, die man als geringfügig abtut, trotzdem ein direkter Beweis der Zerstörung sind. In einer Nachkriegsgesellschaft gibt es mehr davon, aber Narben können überall vorkommen. In deinem Public-Art-Projekt mit dem Titel «EU citizens / Others», das in Ljubljana auf Plečniks Drei Brücken installiert war – einem der bedeutendsten modernistischen Baudenkmäler im gesamten ex-jugoslawischen Raum – setzte den Akzent auf die Reflexion über das geteilte Europa. Hast du das Gefühl, deine Stellung als Bürgerin, Frau und Künstlerin aus dem Osten habe sich in den letzten acht Jahren im Rahmen der europäischen Union verändert? Meine Stellung hat sich eigentlich nicht verändert. Die Arbeit für die Manifesta 3 in Ljubljana handelte von Segregation. Dank der politischen Korrektheit hat man die “Andere”-Schilder ersetzt durch “Nicht-EU-Bürger”. Das ist die größte Veränderung, die ich sehe. Juni-Juli 2008 * “Blue, Red & Green”, Damir Arsenijević
01.02.2008
Empfohlene Artikel
|
Kommentar
Der Artikel ist bisher nicht kommentiert wordenNeuen Kommentar einfügen