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Suburban Punk
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2011, 2
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Suburban Punk

Zeitschrift Umělec 2011/2

01.02.2011

Michael Bracewell | musik | en cs de

“and the Serpentine will look just the same
and the gulls be as neat on the pond
and the sunken garden unchanged
and God knows what else is left of our London
            my London, your London”

Ezra Pound, from Canto LXXX


Das Haus war eine Doppelhaushälfte mit drei Schlafzimmern, einem schönen, ländlichen Garten und einem grauen Holzzaun, über dem an einem Ende ein Fliederbaum hing. 1922 – das Jahr, in dem The Waste Land veröffentlicht wurde – wurde es aus Backsteinen der Firma Dorking gebaut. Es stand in einer Straße mit vielen ähnlichen Häusern in einem der tiefsten Vororte von London. Wie viele seiner Nachbarhäuser geriet auch dieses Haus im Zweiten Weltkrieg unter das Feuer feindlicher Brandkugeln; auf dem Parkettboden vor der Verandatür war immer noch eine saubere diagonale Reihe von Brandflecken zu sehen. Mit der Zeit gehörte sie ebenso zum Zimmer, wie auch der geerbte Klavierstuhl, der goldgerahmte, ovale Spiegel und der Hahn aus Kristall.
Das war Londons südliches Einzugsgebiet, eine Landschaft, die in den 1920ern geschaffen wurde, rundherum edwardianische Anwesen, Gemeindeland und viktorianische Häuser in ländlicher Eleganz. Ein Land „der Vorzüge, wo Erfolg nicht von Misserfolg zu unterscheiden war“, wie einst E. M. Forster bemerkte. Aber das klingt hart. Mitte der Siebziger, die Zeit, in der dieser Teil meiner Geschichte beginnt, galt der Ort und seine Vorstadtstraße – die weicher geworden war nach fünfzig Jahren milder Aprilabende und goldbrauner Herbstsonntage – immer noch als ein Ort von unbeschadetem Ruf, der Ordnung und Routine, bestimmt durch Kodexe, die so streng waren, dass sie nicht einmal eines Namens bedurften. Eine abgelegene Siedlung aus The Waste Land? Vielleicht ja, aber nur in jenen schäbigen Orten, an denen eine alte, auf dem Grund liegende Traurigkeit durch die Ordentlichkeit und den einfachen Wohlstand hindurchschien, genau genommen mehr eine verzweifelte Müdigkeit. Hugh Kenner beschrieb es so: „Frau Eliot berichtete Pound, dass ihr Mann schon seit Wochen keiner Arbeit nachging, die erwähnenswert wäre. Er kam abends von der Bank nach Hause und fiel bis zur Schlafenszeit in einen schweren Schlummer.“
In den Dreißigern wurde in einer komfortablen Villa, nur 10 Minuten zu Fuß von der Doppelhaushälfte aus Dorking-Backsteinen, ein junger Mann namens Denis dabei beobachtet, wie er sich schickmachte. Er verhielt sich distanziert, unsagbar eigensinnig, und die meiste Zeit über widerlich. Der gleiche junge Mann trug auch Make-up auf der Straße. Wenn man ihn fragte, was er in seinem Leben vorhatte, antwortete er „atmen“. Er freundete sich mit einem verkrüppelten Mädchen an, das später eine Nonne wurde. In den feuchten Parks der Vororte gingen sie spazieren, sie humpelnd, er trippelnd – mit seinen eigenen Worten, „als ob seine Beine ans Knie gebunden wären“.
Im späten Frühling des Jahres 1977 las im Schlafzimmer des vorderen Teils des Doppelhauses ein achtzehnjähriger Junge ein Buch mit dem Titel The Naked Civil Servant, welches gerade von Fontana veröffentlicht worden war. Es war der erste Band der Autobiografie von Denis Pratt, geschrieben, als er seinen Namen „gefärbt“ hatte, wie er sagte, und sich Quentin Crisp nannte. Auch wenn Crisp sich selbst als „einen weibischen und augenscheinlich Homosexuellen“ beschrieb, ging es in dem Buch darum, in einem viel weitergefassteren Sinne eigenartig zu sein: Punks wie Crisp beanspruchten, das zu sein, was letzterer als Selbstportrait bezeichnete: „Ich bin ein Selbstfaktum – selbstgeschaffen.“ Von einem kleinen stereophonen Plattenspieler in einer Ecke aus grölte eine Stimme wie im Fußballstadion zu einem kleinen energischen Schlagzeug „I want to be a field day for the Sundays / so they can fuck up my life“.
Die Erfahrung, die der Junge mit Punk machte, war, zur richtigen Zeit zwar nicht am richtigen Ort, aber am Rande dessen zu sein – als Zeuge einer Erschütterung durch kulturelle Anarchie, aber in einem dämmrigen Hinterland, so dunkel und melancholisch wie der Parkplatz einer Bibliothek an einem Winternachmittag. Und er war entschlossen, jede Reise auf sich zu nehmen, alle Beschimpfungen zu ertragen, um es zu versuchen und einen prächtigen elementaren Moment einer neuen Art von Glamour aufzuspüren. Er schien kultiviert, mit schwarzer und roter Kleidung und demselben kleinen, energischen Schlagzeug. Nach außen hin plante er, die Punkbewegung intensiver auszuleben, er sehnte sich nach dem Stadtzentrum, von dem ihn neun Meilen voller Wohnanlagen, Schnellstraßen, Vorortbahnen, Freizeitgelände und kalte, heruntergekommene Geschäftsstraßen trennten: Sein Verlangen verwandelte sich in ein Säurebad, das die Apathie löschte und sein Bewusstsein schärfte – er war fast schon zu wachsam, um die Anzeichen eines fantastischen Frühlings zu bemerken. Ein Gefühl der Fremdartigkeit und Stärke machte sich breit.
Sein Schlafzimmer war sowohl Ankleide als auch Theater. Er riss das Revers seines altmodischen Anzugs auf, die Ausbeute eines Basars im Hof einer anglikanischen Steinkirche, brannte ihn an und versah ihn an einer Seite mit Sicherheitsnadeln, wenn er sich zum Ausgehen fertig machte. Sein verblichenes T-Shirt trug das schlecht gemalte Gesicht eines Serienkillers. Und das Haar des Jungen – nun, sein Haar sah aus, als hätte man es mit dem Brotmesser geschnitten und anschließend mit dem Bodensatz von Schultinte gefärbt; seine unteren Augenlider waren grob mit schwarzem Stift nachgezogen. Crisp schrieb: „Als sich mein Aussehen vom Weibischen zum Bizarren wandelte, reichte die Reaktion fremder Menschen von erschrockener Verachtung bis hin zu empörter Gehässigkeit. Sie begannen, aktiv zu werden. Wenn ich gezwungen war, auf der Straße stehen zu bleiben, um auf den Bus zu warten, oder auf dem Bahnsteig einer U-Bahnstation stand, drehten sich die Leute wortlos um und gaben mir eine Ohrfeige. Wenn ich Sandalen trug, achteten die Passanten darauf, mir auf die Zehen zu treten. Und einmal begann eine Menschenmenge, mir zu folgen, sie wuchs und wuchs, bis der Verkehr nicht mehr die Straße runterfahren konnte …“
Ab dem Moment, in dem unser Junge Roadrunner von den Modern Lovers im Schlafzimmer eines Freundes gehört hatte, schienen die unmittelbar vergangenen Jahre weit weg und wie im Traum – mit einer neugierigen und idyllischen Note: eine Zeit, die auf einmal so zart anmutete wie Blütenblätter, jedoch mit kleinen, trockenen Katzenleckern der Vorfreude versehen. Dann, langsam, wie von einem magnetischen Norden vom Zeitgeist angezogen, schienen verschiedene Einflüsse die Konstellation einer neuen Richtung anzudeuten. Die mittleren Siebziger Jahre kamen dem Jungen sowohl einlullend als auch wachrüttelnd vor, ein duftendes Vorstadtnickerchen. Doch wurde ihm bewusst, dass er unter Anwendung einer geheimen und berauschenden List in die Feierlichkeiten, die vielleicht alle intensiver waren, wenn man Erfahrung hatte, einstimmte, nicht in der Halbwelt der Künstler von Ladbroke Grove und Chelsea, wo Anderssein Mode war, sondern im Geruch von feuchtem Asphalt, Liguster und Regen, draußen in den tiefsten Vororten. Jetzt schien ihm, als ob „Punk“ – die kürzlich akzeptierte Bezeichnung für diesen lebendigen neuen Sinn für agressive Modernität – ein Aufeinandertreffen unzufriedener Außenseiter war und er noch außerhalb der Außenseiter stand, wie ein Mann, der auf die Erde gefallen war, für immer ein Außerirdischer. W. H. Auden schrieb in seinem Musée des Beaux Arts: „… muss etwas Erstaunliches gesehen haben, einen Jungen, der vom Himmel gefallen ist.“ (Diese Zeile wurde auf der ersten Seite von Walter Tevis’ Roman The Man Who Fell To Earth wiederholt, in der Verfilmung mit David Bowie in der Hauptrolle). Und es gefiel unserem Jungen, so von sich zu denken.
Punk war die Entzündung eines explosiven Gemischs, ein Gebräu, das, wie sich herausstellte, nur für eine gewisse Zeit unter Kontrolle war. Als Beispiel: An einem Dienstagnachmittag im frühen Winter 1975 trug der Junge, mit dem kalten Dampf des Laubes auf seinem Pullover, die Novelle Against Nature von Joris-Karl Huysman aus der örtlichen, nach Lack riechenden Bibliothek nach Hause. Es handelte sich um die alte Penguin-Taschenbuchausgabe mit Baldinis taubenblauem Portrait des blassen, satanisch aussehenden Comte de Montesquiou auf dem Buchdeckel. Die ästhetischen Experimente von Huysmans dekadentem Comte Des Esseintes schienen gut zu den Lieblingsplatten des Jungen zu passen: David Bowies Diamond Dogs („Just another future song, lonely little kitsch …“), und am Spätnachmittag, als das bernsteinfarbene Straßenlicht in Form eines langgezogenen Rechtecks auf ein sorgfältig angebrachtes Poster mit Henry Wallis’ Gemälde The Death of Chatterton fiel, folgte der unvergessliche, schwermütige Titelsong von Roxy Musics For Your Pleasure, mit Bryan Ferrys seltsam verzerrter Roboterstimme, die wie die Verkündung eines unter Drogen stehenden Idols während einer Vorstellung klang, dann der flirrende Oberflächensound von Fripps & Enos mesmerischem instrumentalen Evening Star´. Worte und Musik schienen vom Ende einer Ära zu sprechen – das Ende der Geschichte? Hatte die Modernität an sich ein kritisches Maß erreicht? Inzwischen wurde in Chelsea, 430 Kings Road, überlegt, ob man ein Geschäft Modernity Killed Every Night nennen sollte. Aber diese eigenartigen Soundtracks zu einer futuristischen Landschaft waren zu „new, imaginary worlds“ geworden, wie Eno sich selbst später äußerte, während draußen die Stille der Halbmonde und Sackgassen und der warme Geruch von verbranntem Holz im Herbst die Kraft der Musik verstärkt zu haben schienen. Alles war wider die Natur, und Des Esseintes hatte sich für das Leben entschieden – wo? Draußen in den Pariser Vororten, weit weg von der ermüdenden Sophisterei der modernen Gesellschaft.
Natürlich sehnte sich der Junge nach London, der Stadt der Freude. Und wenn Vater in die Stadt pendelte, machten sich die Punks der Vorstadt auf den Weg zum Bahnhof. Auf den Fernstrecken war das ein riskantes Unternehmen, auch in den späten Siebzigern. Die erste punkige Umgebung des Jungen bestand aus Bahnsteigen und U-Bahnen – kaputte Fenster im Warteraum, abgestandener Zigarettenrauch, das Summen der Drähte, sobald sich der Zug näherte. Diese Fahrten zwischen der kindlichen Sicherheit in seinem Zuhause im Doppelhaus und dem unbeständigen Zauber der Stadt fühlten sich an wie das Pendeln zwischen Unschuld und Erfahrung. In den Monaten vor dem Punk ging er zum Beispiel ins Roundhouse, um der Truppe von Lindsay Kemp bei der Aufführung von Flowers, ihrer pantomimischen Darstellung des Lebens von Jean Genet, zuzuschauen. Das war eine epische Reise in mehr als nur einem Sinn. Sie ging von den südlichen Vororten bis über Camden hinaus zu etwas, das aussah wie der Eingang zu einer Katakombe, mit schwitzenden Wänden und Männern mit schwarzem Lippenstift. Der alte Veranstaltungsort sah aus wie eine profane Kirche – in den Sechzigern fanden dort Veranstaltungen statt, die die ganze Nacht dauerten, Wahnsinnstrips wie die Dialectics of Liberation, bis behauptet wurde, die CIA hätte LSD in den Sangria getan. Für Flowers wurde büschelweise nach Patchouli duftender Weihrauch verbrannt. Die Vorstellung zeigte verspiegelte Sargdeckel, Glitzer, Blut und weiße Körper. Für die meisten im Publikum handelte es sich tatsächlich um die Kirche von David Bowie. Es war wie eine Versammlung von Straßenästheten, in einem Stil der Nostalgie für archaische Visionen der Zukunft mit der zweideutigen Konformität von Kraftwerk zum Beispiel: junge Männer aus London Mitte der Siebziger, so angezogen, wie man sich Bankangestellte aus Berlin in den Dreißigern vorstellt, die „Mensch-Maschine“. In einem Essay, den er 1976 für Harpers & Queen geschrieben hatte, bezeichnete Peter York diese Ästheten als „Them“.
Punk ermöglichte dem Jungen die Entdeckung Londons: Diese beiden Phänomene verflochten sich miteinander, schienen sich gegenseitig zu erfinden, durchdrungen von der Contenance und Energie des anderen. In den kommenden Jahren glich seine Erinnerung an London einem Bildungsroman des Punkrock gleich jener Schule der naturalistischen Fiktion im 19. Jahrhundert, in der der kleinstädtische Außenseiter versuchte, die Sozialgeografie und den Glanz der großen Stadt in den Griff zu bekommen. Man fand seinen Weg durch diese Umgebung, erfuhr ihre Konturen – teilweise als eine Konsequenz von Geschmack und Instinkt, und teilweise, indem man der Spur eines Codes folgte.
Es herrschte eine einvernehmliche Anerkennung des Codes, den die kleine Gruppe gebildet hatte, mit der unser Vorstadtjunge manchmal herumzog. Die erste kurze Frühlingszeit des Punk hindurch (rückblickend kam es einem wie ein Jahrzehnt vor, in Wirklichkeit war es nicht mal ein Jahr) hatte es den Anschein, als ob jeder Vorort, jedes Dorf und jede kleinere Stadt ihre eigene Version von Andy Warhols „Superstars“ kreierte. Überall stieß man auf Versammlungen von Lebenskünstlern, Außenseitern, interessierten Beobachtern und Sklaven der Vorstellung von Glamour, die gemeinsam John Waters Definition von Camp zu begründen schienen, „the tragically ludicrous and the ludicrously tragic“. Viele erkannte man allein daran, dass sie, um ihre Vorstellung von Glamour zu verwirklichen, jede Menge – manchmal auch ganz schlimme – Beleidigungen ertrugen. Und dennoch machte ebendiese Hoffnungslosigkeit ihren unbestreitbaren Stil aus. Da waren Kevin and Camp Sheila: kräftige Frauen und tuntige Jungs, die die ganze Nacht aufblieben und Patti Smiths Horses und I am a cliché von X-Ray Spex hörten.
Innerhalb der Punksippe gab es ständig Mitläufer aus den Vororten, die sich durch ihre soziale Unbeholfenheit verrieten. Im Nashville oder im Marquee, im 100 Club oder im Lyceum und sogar im Rock Garden konnte man die Einzelgänger sehen – schüchtern, aber bestimmt um die laute Menge kreisend, schickgemacht mit Klamotten, die sie im Zug niemals anzuziehen wagen würden. Jungs mit dünnen Gesichtern, die einen alten, grauen Regenmantel, eine Baskenmütze und im linken Ohrläppchen eine Sicherheitsnadel trugen, stämmige Mädchen mit altbackenen Brillen vom National Health Service und einem alten Einkaufsnetz, ein schwarzer Junge mit einer grünen Panoramasonnenbrille und einem Hundehalsband. Dort waren sie alle, hingen in den dunklen Ecken am Rande der Menge herum und akzeptierten sich gegenseitig durch einen Code.
Der Frühlingsabend des Jahres 1977 roch im alten Bahnhof East Croydon nach Blumen und Benzin. East Croydon „resembled down-town Johannesburg from the air“, so der berühmte bayrisch-anglophile Architekturhistoriker Nikolaus Pevsner. Die modernen Bürokomplexe, die man in der Abenddämmerung beim Überflug sehen konnte, waren während des Space Race in den späten Sechzigern gebaut worden und trugen demzufolge Namen wie Zodiac House, Apollo House, Lunar House. Aus Beton und Glas gebaut und mit strukturlosen Fenstern versehen, strahlten sie etwas Sowjetisches aus. Sie waren zeitlos modern, wie Punk auch. Das Moderne als abgenutzte Durchgangsstraße. „And then we went to Croydon!“, wie Mott The Hoople einst sang. Das Greyhound, wo dunkel glitzernd Siouxsie and The Banshees spielten, wurde von diesen Hochhäusern durch eine Unterführung getrennt. Der Feierabendverkehr glitt in den Tunnel, dessen dunkler Eingang mit schmutzigen Planken aus kaltem, weißen Licht gekennzeichnet war. Scharlachrote Bremslichter leuchteten in der Abenddämmerung. Der Junge ging mit fest über der Brust verschränkten Armen und gesenktem Kopf, hoffnungslos befangen, jedoch seltsam herausfordernd. Pendler gafften und lachten; einige waren ungeniert feindselig. Das Publikum der Abendvorstellung hatte sein Auftreten bedacht. Alleinreisend wurde jeder von ihnen zu Quentin Crisp, versuchte, so wenig Augenkontakt wie möglich mit irgendjemandem aufzunehmen. Alle zusammen bewegten sie sich wie alte Damen in der Pantomime oder gingen mit gekrümmten Schultern, als ob sie versuchten, sich unsichtbar zu machen: junge Burschen und Punkrocker, die sich gegenseitig mit Lagerbier bespuckten, umgeben von sonderbaren Kunststudenten, die ihrer Doppelbesessenheit nachkamen und rausgeputzt waren wie Darsteller in Roxy Musics Zeitreise („We wanted to look like members of the Inter-galactic parliament“, erinnerte sich Brian Eno später) und David Bowies glänzendem Alien auf einem verglühenden Planeten – das alles spielte sich vor deinen Augen ab.
Liz Naylor würde es einprägsam als „the regular knob-heads wearing straight-leg Lee Coopers“ beschreiben, denn diese Punk-Poser aus den Vororten holten sich die Ideen für ihren Look aus der Weimarer Republik, aus der Science-Fiction und der Pornografie, von Andy Warhol und den Sex Pistols. Sie trugen Bondagehosen, die einen zwangen zu tänzeln und zu humpeln, Röcke aus schwarzem PVC, mit Pailletten besetzte Regenmäntel aus Kunststoff, spitze Stiefel. Es war das letzte Mal, dass Alltagsmode für den Träger tatsächlich eine Gefahr bedeuten konnte: Diese Kleidung beleidigte die Passanten nicht nur, sondern rief puren Hass hervor. In einer Zeit, in der die meisten Männer braune Anzüge trugen und ihr Haar gerade mal bis zu den Ohrläppchen reichte, war die frühe Punkmode mehr als verwegen. Sie war so wahnsinnig übertrieben, verachtete ihr soziales Umfeld so sehr, dass sie sowohl offene Feindseligkeit als auch Ungläubigkeit hervorrief. Heute, da jedes Aussehen einfach nur ein anderes Aussehen ist, kann man sich unmöglich die pure Gewalt vorstellen, die die Rhetorik des frühen Punkstils geradezu herausschrie. Punk und all seine Werke sind inzwischen so etwas wie eine neue Bloomsbury Group geworden. Ihre Mitglieder und Schauplätze, Artefakte und Anekdoten sind Stoff an den Universitäten, Thema beim Kaffeeklatsch, kommen in Geschichten wie dieser vor und gehören zum Museumsbestand. Von Zeugen und Autorschaft wird diese Ära unglaublich sorgfältig behütet und geschützt. Wie ironisch, dass Malcolm McLaren, früherer Kunststudent in Croydon, angekündigt hat, dass „history is for pissing on!" Punk war so historisch wie die Schlacht von Agincourt.  Und doch scheint seine Artikulierung von Modernität, seine Fähigkeit, „Neuheit“ zu prägen, bis jetzt fortgeschrieben zu werden. Wie die Collagen und die Typografie, die der Dadaismus eingesetzt hatte, bewahrten die Elemente des Punk die reine, unberührte Modernität von Maschinenteilen. Die Namen erster Wave-Punkgruppen drückten diese Modernität aus – scharf, funktionell, mit einem industriellen Glanz: Wire, Magazine, Adverts, Buzzcocks, Television.
Die Zeit verging wie im Flug. Aus ’76 wurde ’78, und es schien, als ob alles industriell und grau geworden war. Derek Jarman meinte, „it feels as though the Bomb has gone off in our heads, already.“ Die Grundstimmung war innere Unruhe, eine Art nervöse, schlaflose Energie, die so viele auf so verschiedenen Drogen hielt. Die Zahlenmystik des Jahres 1977 wurde von dieser neuen, ominösen Bedeutung des Modernen eingeschlossen. Two Sevens Clash war gerade aktuell, als der Leser Quentin Crisps den Zug aus den Vororten in die Innenstadt Londons nahm, um sich die Ausstellung Dirty Words Pictures, 1977 der Künstler Gilbert & George anzuschauen. Die monochromen und blutroten Einzelbilder ihrer gigantischen Fotografien zeigten ein London, welches der Leser als Schauplatz seines eigenen Lebens wiedererkannte: ein Ort der zeitlosen Modernität, wie die Hochhäuser von East Croydon, dennoch vereinigt, stark, endlos. (Crisp hatte gesagt, Stil wäre zu wissen, was du bist, und es wie verrückt zu leben.) Gilbert & George zeigten das London im Jahr 1977 als eine Montage aus Bürohochhäusern, von Schienen durchzogenen Stadtstraßen, Nachtbussen, bedrohlichem Himmel, Gesichtern in der Menge, hilflosen Menschen, Scherben, Sonnenstrahlen, die am Tower 42 brechen und den ausdruckslosen Fenstern der Büros bei der London Wall. Für den jungen Punk war die Fahrt aus den Vororten in die Innenstadt wie eine Reise zu einem – mit der grölenden Stimme im Fußballstadion, nur etwas schneller – „evening of fun in the metropolis of your dreams“, oder wie Bowies instrumentale Klanglandschaft in Low, die Jon Savage „post-everything music“ nannte. Hier wurde das London des Punks künstlerisch dargestellt: London zu einer Zeit, als sich aufgrund der Streiks der Müll in den Straßen anhäufte und es aussah, als ob man Wellblech von Chelsea bis nach Covent Garden aufgespannt hätte. Er schaute sich die Bilder der Ausstellung an, deren Titel wie Punknovellen klangen: Are You Angry Or Are You Boring, Cunt Scum, Fucked Up. Für ihn sahen sie aus wie Landkarten einer geheimen Geografie, ein London, das er in den kommenden Jahren immer als sein London begreifen würde, sowohl ein Bewusstsein als auch ein Ort: ein Territorium tief in seinem Innersten.
Dieses London hatte seine eigene obskure Topografie, denn um 1978 war tatsächlich viel zu viel Netzwerk ans Tageslicht gelegt worden. (Eines sonnigen Nachmittags in Ladbroke Grove verkaufte ihm ein Freak mittleren Alters ein Second-Hand-Exemplar von Nicos Marble Index. „Now this is the last time I want this record to see daylight“, lautete die Anweisung des Stammesälteren, dessen gebrechliche Hände im nebligen Sonnenschein zitterten.)
Nachdem er allen Mut zusammen genommen und Sex im World’s End angeschaut hatte (sogar der Schauplatz war passend benannt), ging der junge Außenseiter aus den Vororten als nächstes zu PX in der Nähe der Floral Street WC2 (rein kam er durch eine Tür, die sich unter den eisernen Rolläden befand) und dann in die Endell Street, wo er einer blonden Frau mit Panzerschutzbrille einen Silberohrring abkaufte.
Als es eröffnete, fühlte er, dass er auf diese Umkleidekabinen aus dem 21. Jahrhundert nur gewartet hatte. Es handelte sich um Antony Prices Geschäft Plaza am oberen Ende der Kings Road, unter der 20th Century Box gegenüber Beaufort Market. Mittlerweile, irgendwann um 1978 herum, war Punk in eine vielschichtige Anordnung von Untersektionen zerfallen, die von ernsthaften Sozialrealisten bis hin zu futuristischen Ästheten gebildet wurden. Das Plaza war ein minimalistisches Quartermaster-Lager für die moderne Jugend, die Punks dazu antrieb, sich selbst vom dauerhaften Klischee einer Schimpftirade mit zwei Akkorden zu befreien. Stoff- und Kleidungsmuster waren auf Laken in den Regalen befestigt, deine ausgewählten Sachen verkaufte dir eine menschliche Schaufensterpuppe hinter einem verspiegelten Tresen. Die Umkleiden waren allesamt mit Spiegeln ausgestattet, ein Traum für Voyeure und ein Alptraum für unsichere Personen. Sie sahen aus wie das Zimmer auf dem Cover von Fripps & Enos mesmerischer „post-everything“-Platte No Pussyfooting, und das war genug. Price war tief dem Roxy-Music-Styling verhaftet, später angelte er sich einen frühen Postpunk-Geschäftszweig, indem er Kleidung entwarf, die wie fetischisierte Sci-Fi-Uniformen aussahen – für Mädchen Militärhemden mit lila Lurex und schwarzen Schulterklappen aus Krepp. Pop-Art-Kleidung für Post-Pop-Leute.
Schon bald mutete die cartoonartige Anarchie des frühen Punk wie eine jämmerliche Kirmes an. Die Zukunft lag in neuem Mut, autorisiert durch den pro-aktiven Denkansatz des Punk, Regeln zu brechen. Public Image Ltd’s Metal Box wurde zum neuen Soundtrack der Londoner Vororte, die fest im Griff des tiefsten Winters waren. Der String-Synthesizer in Radio Four klang wie ein Abgesang des Punk an den Rock’n’Roll. Auch merkwürdige neue Gruppen aus provinzialen nördlichen Städten schnappten die Forderung nach etwas Neuem auf. Sonntagnachts im alten Ballroom des Lyceum in der Wellington Street spielten diese Newcomer in Viererkombinationen: Mekons, Gang of Four, The Human League und Stiff Little Fingers; Delta 5, Cabaret Voltaire, Ludus, This Heat. Jede dieser Gruppen fügte dem Punk zu Londons brutalistischer Mixtur aus Beton und Dickens’schen Nebenstraßen ihre eigenen atmosphärisch dichten Charakteristiken hinzu: zerstörte Industriestädte im Norden, wo Wissenschaft und Technologie von geschwärzter gotischer Herrlichkeit gestaltet wurden.
Auch Covent Garden war größtenteils baufällig. Geigenbauer und esoterische Buchhandlungen erhielten, von jeglicher Wahrnehmung einer Veränderung ungestört, die Atmosphäre der Dreißiger Jahre. Gegenüber dem Lyceum waren die Geländer der Veranda zum feierlichen Eingang des Empire-Apartmenthauses schon lange verrostet, ein verwelkter Blumenstrauß mit seinen Ketten verflochten. In den nächtlichen, ärmlich beleuchteten Straßen vom Covent Garden der späten Siebziger wurde das theatralische Melodram der New Romantics, den größten Nachfolgern des Punk, zum ersten Mal bemerkt: Neblige, verlassene Bezirke der Londoner Innenstadt, wie Holborn, Grays Inn Road, Fitzrovia, wurden von jungen Leuten, die angezogen waren, als ob Lord Byron von Radclyffe Hall belehrt worden wäre, als stimmungsvoll beleuchtete Bühnenkulisse vereinnahmt.
Vielleicht ist es eine gemeinsame Erfahrung jeder Generation, dass ihre Zeit ein einzigartiges Gefühl in der Erinnerung und der Geografie ausmacht (eine Erweiterung dessen, was Virginia Woolf als einen „moment of being“ beschrieb, wie wenn das Bewusstsein eines Jemand voll in der Gegenwart verankert scheint). Durch London zu laufen, bedeutete in diesem Sinne, durch die Kapitel unserer Autobiografie zu laufen, mit Plätzen und Strecken, die die Arbeit der geschriebenen Kapitel erledigen.
Währenddessen schienen die Vororte weitgehend unverändert zu bleiben. Natürlich dehnte sich London ständig aus, und was 1960 noch aussah wie etwas größere Provinzstädte, war 1980 schon vollständig in die graue Masse der größeren Stadt übergegangen. Dennoch war etwas Wesentliches zurückgeblieben – dieser bescheidene Wohlstand, ein strenger Code und uralte Schläfrigkeit, die vielleicht zu bröckeln anfingen und während des folgenden Jahrzehnts abfallen würden. Die Punk-Erfahrung der Vororte machte es einem immer noch möglich, mit „post-everything“‑Kleidung durch eine bürgerliche Wohnlandschaft zu laufen, wie sie Stevie Smith aus den späten Vierzigern kannte und Betjeman vielleicht als die Ruinen der Eleganz der Zeit zwischen den Kriegen pries. In den Vororten von 1976 gab es noch immer geschotterte Einfahrten zu privaten Tennisplätzen, Tudor-Teestuben und Bleiglasfenster im Lutyens-Stil. Es begann sich erst alles mit dem Bauboom der frühen Achtziger zu verändern, als ganze Haufen von kleinen, postmodernen Handwerkerhäuschen gebaut wurden. Sie hießen Cheyne Cloisters oder trugen andere auf sozialen Aufstieg bedachte Namen und entstanden dort, wo einst der Rasen einer edwardianischen Villa wuchs. Hier konnte man Punks aus den Vororten finden, die den letzten Dunst der früheren heimischen Landschaft der Mittelklasse der Nachkriegszeit bewohnten. Für unseren Jungen war Punk niemals Volksmusik, sondern eher das, was Howard Devoto, der Mann, der später „Orson Welles of punk“ genannt wurde, als „trouble-shooting modern forms of unhappiness“ bezeichnete.
Für diejenigen, die ihren Weg zur geheimnisvollen Geografie des Punk in London gefunden haben, schienen viele der Veranstaltungsorte und Durchgänge der Punkbewegung jetzt von einer etwas poetisierten Unklarheit besessen zu sein: das alte Electric Ballroom, wo Wire mit einer dreistündigen Kunstperformance ein Publikum aus hauptsächlich betrunkenen Skinheads verhöhnten, der entlegenste Abschnitt der Portobello Road, wo man importierte Schwarzpressungen von Platten der Residents, Devo und Pere Ubu zu kaufen bekam, die West Kensington Underground Station beim früheren Nashville, ein Zimmer voller Polaroidaufnahmen in einem großen Haus bei der Notting Hill Gate Station, der Nachtclub Notre Dame Hall in Leicester Square …
Von den Schauplätzen, die auf der Karte nicht verzeichnet waren, musste man einfach wissen, wo sie zu finden waren, wie zum Beispiel das weit entlegene Schlafzimmer in der Doppelhaushälfte aus Dorking-Backsteinen, verzaubert von einer Single-Schallplatte in einer seltsamen Hülle, und das den Anschein machte, der Eingang zu genau dem geheimen London voller Wichtigkeit und Neuartigem zu sein, von dem du wusstest, dass es mit Sicherheit existieren und dein Leben für immer verändern würde, doch das erst einmal ausfindig gemacht werden musste. Und der Junge, heute mittleren Alters, sinniert darüber, wie ihn das alles immer noch zu Tränen rühren kann.

Ende.




Aus dem Englischen von Julia Kliem Gesteira.




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