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"The Leipzig Lens" goes Amerika
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2005, 2
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"The Leipzig Lens" goes Amerika

Zeitschrift Umělec 2005/2

01.02.2005

Susanne Altmann | foto | en cs de

Die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst hat sich zu einem der spannendsten Fotografiestandorte Deutschlands gemausert – und zeigt überregionales Selbstbewusstsein


Langsam verziehen sich die malereigeschwängerten Rauchwolken, die einige Jahre nicht zu Unrecht eine differenzierte Sicht auf den Kunst[stand]ort Leipzig vernebelten. Hier konnte sich Qualität im Stillen entwickeln. Zum Vorschein kommt auch eine lebhafte Fotografie-Szene, die es im Umfeld der dortigen Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) schon mindestens seit den 1980er Jahren gibt. Unter den einstigen Lehrkräften finden sich Arno Fischer und Evelyn Richter, zu den späteren Absolventen gehören Tina Bara oder Gundula Schulze-El Dowy. Deren unprätentiöse, oft sozialkritische Menschenfotografie, diese Bestandsaufnahmen spät- und postsozialistischer Konditionen, gerieten allerdings bald in eine Sinnkrise: in Reibung mit der mächtigen Düsseldorfer Schule kam es hier zu Neupositionierungen.

Einer, der schon früh Cartier-Bressons „entscheidenden Augenblick“ ablehnte und sich auf sachliche Architekturstudien konzentrierte, ist Matthias Hoch – heute bekannt für isolierte Stadtfragmente, mit denen er europäische Großstädte auf ihre Austauschbarkeit untersucht. Damals war Hoch einer der ersten, der dem Schwarzweiß eine Abfuhr erteilte. Von 1993 bis 1998 Assistent an der HGB, bereitete er einem neuen Blickwinkel den Weg. Und auch sein Kollege Hans Christian Schink, der 1991 sein Diplom abschloss, verlegte sich auf sachliche, menschenleere Konterfeis des gebauten Umraums und wurde vor allem mit seinen präzisen Bestandsaufnahmen des Umbaus Ost bekannt. Sein betonlastiger Zyklus Verkehrsprojekte deutsche Einheit ist in der jüngeren Fotografengeneration schon fast zum Klassiker geworden.

Anfang der 1990er Jahre erfolgten in Leipzig außerdem die Berufungen zweier Fotokünstler, die die Linse der dortigen Studenten neu schärften und Leipzig zunehmend zu einem der wichtigsten Ausbildungsstandorte machten: Timm Rautert und Joachim Brohm.

Brohm, der sich als einer der ersten deutschen Fotografen in den 1980er Jahren der fahlen Farbigkeit unspektakulärer, randständiger Kulturrräume (bevorzugt im Ruhrgebiet) widmete, übertrug dieses Interesse in seine Lehre. Parallel dazu legte er mit seinem Konvolut AREAL die über zehnjährige Anamnese eines im Umbruch begriffenen Münchner Industriegebietes an. Seine Studenten untersuchen in diesem Sinne geduldig städtische und periphere Randgebiete und deren subversive Kraft, Identität zu bilden. Bestes Beispiel dafür ist die 2002 erschienene Publikation psychoscape, die das veränderte Verständnis von Urbanität und Landschaft aufs Korn nimmt.

Seit 2003 sitzt Joachim Brohm auf dem Leipziger Rektorensessel und verordnet seiner Fachklasse derweilen ein Programm an Gastdozenten, darunter der kanadische Fotokünstler Roy Arden oder der konzeptuelle Stadtrandforscher Boris Sieverts. Sieverts schickt die Studenten auf Expeditionen in unterbelichtete Randlagen, Industriefolgelandschaften und urbane Wildnisse, von denen es ja im postsozialistischen Leipzig ausreichend gibt. Der Thematik entsprechend fallen Präsentationen der Brohm-Schützlinge, bis auf wenige Ausnahmen, häufig spröde und architekturlastig aus.

Als erheblicher Farbtupfer erschien 2002 Boris Mikhailov auf der Leipziger Bildfläche. Eingeladen von seinem Kollegen Helfried Strauß, trat der Mann aus Kharkov eine einjährige DAAD-Dozentur an, zu der Lernwillige aller Klassen eingeladen waren. Anfangs tat sich Mikhailov nach eigenem Bekunden schwer. Er vermisste Eigeninitiative bei seinen Schützlingen und fühlte sich unwohl zwischen den kommerziell durchgestylten Oberflächen des neuen Ost-Westens. Zudem hatte er das Gefühl, dass seine eigene Schöpferkraft unter dem Überangebot an Bildern litt: „Was soll man hier noch fotografieren…“ klagte er und legte am Ende seiner Lehrtätigkeit trotzdem ein grelles Panoptikum von meist Berliner Randexistenzen vor, die ihre Deutschlandpremiere in der Galerie der HGB erlebte. Parallel präsentierte er stolz studentische Resultate, die dann doch in den letzten zwölf Monaten entstanden waren. Im Mittelpunkt der erwartungsgemäß stark menschenlastigen Motive stand eine Studienreise nach Odessa, während der das letzte Eis zwischen dem melancholisch-humorvollen Ukrainer und den jungen Deutschen brach. Heute blickt man an der Leipziger Hochschule auf jene Reise auf die Krim wie auf einen Mythos zurück und noch immer tauchen auf diversen schulinternen Rundgängen Motive vom ukrainischen Strand- und Alltagsleben auf. Die Handschrift des Meisters, und das nicht nur im Falle Mikhailov, schimmert bisweilen mehr oder weniger klug anverwandelt durch die Aufnahmen.

Einer, dessen Studenten und Absolventen beileibe nicht als stilistische oder motivische Familie auftreten, ist Timm Rautert. Ein Großteil seiner Studenten glänzt mit enormer Eloquenz und Diskursfreude: in dieser Klasse wird jüngere Fotografiegeschichte unablässig auf neue Möglichkeiten abgeklopft und daher ist es eher Experimentierfreude im Bereich des Konzeptionellen, die das Markenzeichen dieser Fach- und Meisterklasse ausmacht. Generalstabsmäßig entwickelte der energische Professor nebst seinem derzeitigen Assistenten Florian Ebner den Terminus „Rautert-Schüler“ zu einem Qualitätsetikett und schickt die Arbeiten seiner Schüler in regelmäßigen Abständen auf Gruppentourneen. Den Anfang bildete 2003 die Ausstellung Silver & Gold, 14 Studierende und ihrem Professor deutschlandweit an vier Ausstellungsorten vorstellte. Dicht gefolgt wird die Initiative von Kalte Herzen, nunmehr auf 33 Teilnehmer angewachsen, die derzeit ihre Tour auch nach Polen und Großbritannien antritt. Eine solche Aktion wird jedes Mal, kommerziell gewitzt, von einer noblen Edition begleitet – hier kommen die Arbeiten für kleine Preise in Umlauf und die laufenden Kosten können einigermaßen gedeckt werden. Recht hilfreich sind zweifelsohne die exzellenten persönlichen Kontakte des Mentors zu Verlagen wie Steidl, Schaden oder Walther König, wo die Begleitpublikationen erschienen sind.

Während anfangs Angehörige der benachbarten Fachklassen die Nase etwas über den Rautertschen Kollektiv-Aktionismus gerümpft haben mögen, so wirkt sich das Treiben im Sinne eines durchaus positiven Zugzwangs mittlerweile belebend auf das Klima im Fachbereich Fotografie (und schließlich im ganzen akademischen Hause) aus. Die Devise Präsent sein! prägt sich den jungen Fotografen ein und ist, selbst wenn die Fülle der unbefangenen Selbstdarstellungen anfangs noch etwas über das Ziel hinaus schießt, ein gutes Überlebensmittel auf der freien Wildbahn. Nicht umsonst inszenierte sich die Rautert-Klasse jüngst in barocker Hängung auf roter Wand als höchst heterogene Herde von Heim- und Wildtieren: ein Plädoyer für Artenschutz inbegriffen?

Auf den erfolgreichen Stall sind nunmehr nicht nur Leipziger Insider aufmerksam geworden – mit sicherem Jagdinstinkt pickt sich der Berlin/ Leipziger Eigen + Art -Galerist Judy Lybke Interessantes aus dem Biotop der HGB. Zuletzt betraf das die junge Fotografin Ricarda Roggan, die mit ihren spartanischen Szenarien Möbelstücke einer abgewickelten DDR-Vergangenheit eindrucksvoll porträtiert. Im Sommer letzten Jahres überließ Lybke sogar seine gesamte Leipziger Galerie für neun Wochen einer Handvoll Absolventen, die in Eigenregie ihre Ausstellung “Just good news for people who love bad news“ einrichteten.

Zu den zehn Aktiven zählten auch Falk Haberkorn und Sven Johne. Die beiden Kollegen planten damals gerade an einer künstlerischen Teamarbeit: einer inzwischen absolvierten fotografischen Herbstreise durch Ostdeutschland. Doch schon im Vorfeld mag ihnen klar geworden sein, dass mit zunehmender Entfernung vom Hochschulbetrieb Gemeinschaftsaktionen wie Silver & Gold oder die Eigen +Art -Schau immer spärlicher gesät sein würden und Selbsthilfe nötig war. Bestärkt von dem Erfolgsmodell Produzentengalerie, das in Berlin von den Malern der LIGA vorgelebt und von Echolot und Rekord würdig aufgenommen wurde, beschlossen Haberkorn und Johne gemeinsam mit ihrem einstigen Kommilitonen Frank Berger ein Nämliches zu wagen: die Flucht nach vorn in die Öffentlichkeit und hoffentlich auf den Kunstmarkt. Wie bei den Vorgängern, agiert im Schatten des Unternehmens Judy Lybke als mentale Stütze, netzwerkelnder Garant für Kontakte und nicht ganz ohne Kalkül. Denn: der eine oder andere Künstler, der hier “aufgebaut“ wird, könnte über kurz oder lang zum Eigen + Art -Stamm stoßen, wie es im Falle LIGA bereits geschehen ist.

Momentan kann davon bei den nachkommenden Künstlern noch keine Rede sein, denn die Aufbauarbeit hat gerade erst begonnen. Zunächst einmal fanden sich 20 Leipziger Foto- und andere Künstler zusammen, die willens und in der Lage waren, zweimal den für Newcomer nicht unerheblichen Jahresbetrag von 1500 Euro in eine Gemeinschaftskasse zu entrichten. Als nächstes wurden potenzielle Galeristen zum Vorstellungsgespräch eingeladen – für die Arbeitgeber in spe eine einigermaßen absurde Situation, wie sich Falk Haberkorn erinnert. Die Wahl fiel auf den Kulturmanager Sebastian Klemm, der (wen wunderts?) nicht nur ein längeres Praktikum bei Eigen + Art absolviert hat, sondern auch eine Ausbildung als Volkswirt vorweisen kann. Schließlich sollen hier im Laufe der nächsten 24 Monate schwarze Zahlen geschrieben werden.

Sebastian Klemm blickt sowohl dem anstehenden Vermittlungsdruck wie auch den kommerziellen Erwartungen mit professionellem Pragmatismus und illusionsloser Heiterkeit entgegen. Als erstes fand er passende Räume am Beginn der Brunnenstraße in Berlin-Mitte. Dann wurde basisdemokratisch der Titel der neuen Galerie diskutiert. Und weil einer der Produzenten gerade Franz Kafkas Romanfragment gelesen hatte, einigte man sich auf den Namen Amerika – und zwar mit „k“ statt internationalem „c“. Das Motto soll Entdeckerfreude, Aufbruchsstimmung, Unternehmergeist und eine Portion vorsichtiger Selbstironie verpacken. Unter dem Dach der 100m2-Keimzelle „Amerika“ werden zweimal jährlich Gruppenschauen statt finden, ansonsten sorgfältig choreographierte Doppelausstellungen.

Die Positionen, die hier seit März ihren Auftritt haben werden, sind nicht immer leicht verdaulich und auch keine leicht zu vermarktende Flachware. Den intellektuellen, diskursnahen Zugang der Leipziger Fotografieausbildung will niemand verleugnen und daher wird auf ein Profil gesellschaftlich engagierter, kritischer Relevanz gesetzt. Trotz aller Fotografielastigkeit darf es gern auch unterhaltsam werden. Unbedingt gehören Skulptur und Installation dazu – dafür sprechen in Leipzig und indes überregional einschlägig bekannte Namen wie Alexej Meschtschanow und Andreas Grahl, die sich mit an Bord der fiktiven Überseefahrt befinden.

Über das Engagement der HGB-Graduierten und Meisterschüler freuen sich gewiss jene Professoren, deren Kinderstube die Zwanzig im Laufe der letzten Jahre durchlaufen haben – neben Timm Rautert, dem ultimativen Motor, auch Astrid Klein und Joachim Brohm. Wenn alles gut geht, erfolgt hier ein weiterer Ritterschlag für den Ausbildungsstandort Leipzig. Oder, wie es Amerika-Mitbegründer Sven Johne formuliert: Warum sollte man an dem Label Leipzig nicht teilhaben, solange es noch funktioniert?




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