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Umida Akhmedova, die Beschuldigte
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2011, 1
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Umida Akhmedova, die Beschuldigte

Zeitschrift Umělec 2011/1

01.01.2011

Alexey Ulko | in transition | en cs de ru

Der Mangel an Vorstellungskraft, den die höchsten Staatsmänner der Sowjetunion in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bei der national-territorialen Verteilung der zentralasiatischen Republiken an den Tag legten, erfuhr einen letzten Nachhall, als diese Länder plötzlich ihre Unabhängigkeit erlangten. 1991 tauchten ganze fünf neue Staaten auf der Landkarte auf: Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan, die zu unterscheiden leider nur die Bewohner dieser Länder sowie Spezialisten für internationale Beziehungen im Stande sind. Diese Situation hat einerseits zu einer aktiven Suche nach einer inneren Identität geführt, als deren Resultat binnen Kurzem einige Besonderheiten definiert wurden: das freiheitsliebende, doch regelmäßig von inneren Spannungen auseinandergerissene Kirgistan, das sich in der absoluten Neutralität einer grotesken Selbstisolation befindende Turkmenistan und das stabile Usbekistan, das alle Charakterzüge des sowjetischen Systems am ursprünglichsten erhalten hat. Zudem haben alle diese Länder eine erhöhte Sensibilität bezüglich ihres Images in den Augen der Weltöffentlichkeit gemein. Als gelungene Illustration hierfür kann die Reaktion der sonst zur Selbstironie neigenden kasachischen Gesellschaft auf den Film „Borat“ gelten, der sich angeblich über das kasachische Volk lustig macht. Diese Reaktion schloss eine Protestnote des Außenministeriums ein und wurde von einem Zuwachs an Touristenzahlen nach Kasachstan begleitet. Beide Faktoren haben eine direkte Beziehung zu unserem Thema, doch dazu später.
Alle zentralasiatischen Länder bilden eine halbvergessene Gemeinschaft in ihrer Beziehung zur Vergangenheit, indem sie sich auf die Erfahrung und den Stil der sowjetischen Staatlichkeit stützen. Das Vakuum, das nach dem Ende der sowjetischen Ideologie entstand, begann sich rasch mit verschiedenartigen, eklektischen Formen neuer „nationaler Ideologien“, „nationaler Mentalitäten“ und Traditionen aufzufüllen. Ein wichtiges, wenn nicht gar das wichtigste Charakteristikum all dieser Prozesse, wurde ihre Ahistorizität. Tatsächlich ist in einem Staat, der seine „vollendete Struktur“, die den jahrhundertelangen Hoffnungen des Volkes entspricht, jäh angenommen hat, kein Platz für einen langen historischen Prozess – ein solcher Staat kann nur Errungenschaften haben. Dementsprechend trägt die Hinwendung zur Vergangenheit einen unverdeckt mythologischen Charakter, wie zum Beispiel: Den Begriff „Türke“ gibt es nicht, sondern die Bezeichnung „Turkmene“. Oder: Die Quellen der kasachischen Staatlichkeit reichen bis ins zweite Jahrtausend v. Chr. zurück, und bei den Samaniden handelt es sich um ein tadschikisch-arisches Imperium des 10. Jahrhunderts und so weiter. Der Ort der Geschichte wird vom Unveränderlichen und von dem amorphen Begriff der „heiligen nationalen Traditionen“ besetzt.
Dies wirkt sich zweifellos auf die schöpferische Tätigkeit in dieser Region aus. Diese ist in den Ländern mit nomadischen Traditionen schwächer, und in den Staaten, die auf der Grundlage verschiedener Siedlungsformen entstanden sind, stärker ausgeprägt. Die vom sowjetischen System geerbte „offizielle“ Kunst huldigt den pingelig zur Mythologisierung ausgewählten Figuren der Vergangenheit (Gergoly, Tumur, Samani) sowie der Gegenwart („Führer der Nation“ Präsident Nasarbajew, „Vater der Turkmenen“ Präsident Nijasow). Etwas abseits, doch ziemlich im Sinne der offiziellen Politik, stehen die zahlreichen und einander sehr ähnlichen Werke, die die Schönheit der nationalen Bräuche, der Festlichkeiten und des Alltags besingen. Andere suchen Anerkennung im nicht weniger mythologisierten „Westen“ und bemühen sich, die ganze „nationale Mentalität“ mit Mitteln der Installation, Collagen und Konzepten adäquat auszudrücken, welche in den letzten fünfzig Jahren regelmäßig Galerien in der ganzen Welt füllten. Das heißt natürlich nicht, dass es in der Region keine Künstler gibt, die wahrhaftig und ernsthaft mit Fragen der eigenen schöpferischen Suche beschäftigt sind. Doch solche Künstler riskieren, nicht ins Bild zu passen. Und so muss man zugeben, dass ihnen der nicht allzu elegante konformistische Rahmen des gegenwärtigen politischen und ideologischen Klimas mit ernsthaften Problemen drohen könnte.
Dies trifft voll und ganz auf Usbekistan zu, einem Land, das an der Wegkreuzung der berühmten Seidenstraße entstanden ist, die Kultur und Traditionen vieler Völker in sich vereint und sowohl ihre Errungenschaften als auch ihre Schwierigkeiten geerbt hat. Leider ist ein offener und ehrlicher Blick des Künstlers auf die vielseitige Realität der zeitgenössischen usbekischen Gesellschaft nicht nur unerwünscht, sondern wird auch streng bestraft. Dies hat die bekannte Foto- und Kinokünstlerin Umida Achmedova, Absolventin des Russischen Gerasimov-Instituts für Filmkunst (VGIK) und erste weibliche Kamerafrau Usbekistans, Teilnehmerin und Kuratorin zahlreicher internationaler Projekte, im vollen Ausmaß erfahren müssen. Das Mirabader Kriminalgericht hat sie am 10. Februar 2010 – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes – nach Artikel 139 Absatz g („Verleumdung“) und nach Artikel 140 Absatz 2 („Beleidigung“) des Strafgesetzbuchs der Republik Usbekistan verurteilt. Und obwohl Achmedova laut der Entscheidung desselben Gerichts von einer Strafe verschont wird, hat keine der folgenden Berufungen zur Zurücknahme des Schuldspruchs geführt.
Als formaler Grund für die Verurteilung galt Achmedovas Mitarbeit an einem Genderprogramm der Schweizer Botschaft. Achmedova beteiligte sich an der Zusammenstellung des Fotoalbums Frauen und Männer von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang und drehte in Zusammenarbeit mit ihrem Mann Oleg Karpov den Film Zeit der Keuschheit. Im Zuge des Monitorings dieses Programms hatte eine Reihe von Materialien – darunter das Album und der Film Achmedovas – die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter der Usbekischen Agentur für Kommunikation und Information geweckt. Sie befanden, dass sie die Mentalität und die Würde des usbekischen Volks beleidigen könnten und Verleumdungen enthielten, die seinen guten Namen herabsetzten. Auf Grundlage der Schlussfolgerungen einer speziell einberufenen Expertenkommission wurde ein Strafverfahren gegen Umida Achmedova eingeleitet.
Es ist in diesem Fall nicht notwendig, beim genauen Verlauf des Prozesses gegen Achmedova zu verweilen, schon deshalb, weil in ihrem Fall kein „Prozess“ eingehalten wurde – die Absurdität und die mangelnde Beweiskraft der Beschuldigung, die ohnehin in ihrem unbewaffneten Blick zu lesen waren, standen der Durchführung einiger formaler gerichtlicher Sitzungen und der Bekanntmachung des von Anfang an feststehenden Schuldspruchs nicht im Wege. Vom Niveau und Charakter der Argumentation der Kläger zeugt am besten ein Text der Experten-Schlussfolgerungen über einige Fotografien aus dem Album:
„Im Fotoalbum Frauen und Männer von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang (…) werden 111 Fotografien Umida Achmedovas vorgestellt. Neunzig Prozent der Fotografien wurden in den letzten, abseits gelegenen Dörfern aufgenommen, und Ziel der Fotografin ist, die schwierige Seite des Lebens zu zeigen. (…) Umida Achmedova bildet unsere nationalen Bräuche in dunklen Tönen ab. Zum Beispiel das weinende Mädchen, das sich vom Vater verabschiedet und ihm Segen wünscht. Oder hier – die Hände einer Braut, die sehr unsicher dasteht, und daneben die Faust des Bräutigams. Auf den ersten Blick scheinen beide Fotografien gewöhnlich. Doch mit diesen beiden Bildern möchte die Fotografin sagen, dass das Mädchen mit der Heirat seine Freiheit vollständig verloren hat und bei der Verabschiedung vom Vater weint. In Europa weinen die Bräute nicht, wenn sie heiraten, (…) deshalb denkt jeder westliche Mensch, der das Foto anschaut, unweigerlich, dass die Mädchen in Usbekistan zwangsverheiratet werden und deshalb weinen. (…) Das Objektiv der Umida Achmedova zeigt keine schönen Orte, zeitgenössischen Gebäude, wohlhabenden Dörfer. Diese Person sieht eine Frau im Telefonhäuschen, die auf Klienten wartet, eine Frau mit nassen Haaren, die Teppiche verkauft und eine Blumenverkäuferin, die nachdenklich direkt ins Objektiv schaut. (…) Auf den Fotografien sind die Frauen nur mit alltäglichen Sorgen und schwerer Arbeit beschäftigt. Die Männer sind dagegen hauptsächlich mit Großtuerei, Hahnenkämpfen, Essen und Ablenkungen beschäftigt. (…) Einfacher gesagt, das Leben wird darin sehr unschön gezeigt. (…) Das Fotoalbum entspricht nicht den ästhetischen Anforderungen und die Ausbreitung dieses Albums in einer breiten Gesellschaft muss gestoppt werden.“
Das bestimmende Charakteristikum der Beschuldigung gegen Umida Achmedova war nicht, dass sie juristisch eine Bankrotterklärung darstellt, sondern besteht vielmehr in der anfänglichen Absurdität, die dann in eine Groteske übergeht. Auf die Bemerkung der Verteidigung, Verleumdung und Beleidigung würden nach dem usbekischen Strafgesetzbuch nur als solche anerkannt, wenn sie gegen eine bestimmte Persönlichkeit gerichtet sind, antwortete die Staatsanwaltschaft, das ganze usbekische Volk bestünde eben aus solchen individuellen Persönlichkeiten, die deshalb alle der Beleidigung und Verleumdung von Seiten Achmedovas ausgesetzt seien.
So erschreckend abgeschmackt und paranoid war die Furcht der Regierung vor der mythischen „falschen Meinung des Westens“. Sie beruht auf einem mangelnden Vertrauen der „Experten“ in die Fähigkeit des europäischen Touristen, selbstständig zu dem Schluss zu kommen, dass längst nicht das ganze Leben der Usbeken im Schatten der Taschkenter Springbrunnen vor dem Hintergrund von Glamour-Boutiquen verläuft. Man bemerke, dass die reale Meinung hunderter Menschen aus der ganzen Welt, die ihre Empörung gegen die strafrechtliche Verfolgung äußerten und das Werk Achmedovas als „wahrhaftig, ehrlich und von Liebe und Sorge für ihr Volk durchdrungen“ unterstützten, die Staatsanwaltschaft überhaupt nicht interessierte. Nach den Worten eines in Usbekistan akkreditierten ausländischen Diplomaten hat „der Prozess gegen Achmedova der ganzen Welt die Erfolglosigkeit der Führung des Landes, es als einen sich demokratisch entwickelnden Staat zu präsentieren, anschaulich demonstriert. Der Imageschaden, der Usbekistan durch diese Farce erlitten hat, ist sogar kaum abzuschätzen.“
Im Schlusswort möchte ich anmerken, dass der gefährlichste Aspekt in der „Angelegenheit des Images Achmedovas“ nicht nur die Verletzung der schöpferischen Freiheitsrechte, sondern auch die mangelnde Beweiskraft und der Fakt ist, dass mit Umida Achmedova eine Künstlerin der Verleumdung und Beleidigung beschuldigt wurde, weil sie die allzu bekannten, aber oft verschwiegenen Seiten des Lebens ihres Volkes mit Mitgefühl thematisiert. Die Fotografien und Filme Achmedovas offenbaren der Welt keine unerhörten oder erfundenen Auskünfte über die ärmliche Lage des usbekischen Volks oder seine strengen Bräuche. Achmedovas Kraft liegt darin, dass es ihr mit einfachen künstlerischen Ausdrucksmitteln gelungen ist, die langsam verbreiteten, amorphen und lügenhaften Mythen, die von der Phrase der „nationalen Ideologie“ verdeckt werden, herauszufordern. Indem sie sich weigert, sich der ahistorischen Doktrin über die Unerschütterlichkeit und die Heiligkeit der „nationalen Traditionen“ unterzuordnen, wendet sich Achmedova den Fakten des wirklichen Lebens des usbekischen Volkes mit all seinen Vielfältigkeiten zu und stellt sie den obskuren Ideen über die „Heiligkeit des nationalen Geistes“ entgegen, denen – wie wir annahmen – 1945 auf immer ein Ende gemacht wurde.



Aus dem Russischen von Helena Maier.




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