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acamonchi
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2006, 3
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acamonchi

Zeitschrift Umělec 2006/3

01.03.2006

Marisol Rodríguez | street art | en cs de

In den Medien zu leben
bedeutet, im Flüchtigen zu
leben: Wenn man nicht da ist,
wenn sie anrufen, dann rufen sie einfach jemand anderen an. Wenn man sie selber anruft, rufen sie nie zurück.(1)

Luis Donaldo Colosio wurde 1994 durch einen Kopfschuss inmitten einer jubelnden Menge ermordet, nach einer enthusiastischen Rede für seinen Präsidentschafts-Wahlkampf in der nordmexikanischen Stadt Tijuana. Plötzlich war diese Stadt am äußersten Rande Lateinamerikas wieder im Auge des Orkans.
Tijuana ist eine paradigmatische Stadt an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Sie ist zum idealen Nährboden für das Aufkommen einer neuen Szene geworden(2)− Musiker, Künstler und Designer haben ihre Ästhetik, ihre Musik und ihre Art der ironischen Wahrnehmung der oft korrupten, bürokratischen und frustrierenden mexikanischen Realität eingepflanzt, eine alternative Art kreativ zu sein und so mit anderen Künstlern und Designern im Land gleichzuziehen. In Tijuana machen sie sich über das Leben, wie es spielt, lustig, anstatt darüber zu klagen, was fehlt; sie schaffen ernst zu nehmende Musik, Design und Kunst, um diese in der ganzen Welt zu verbreiten.


Acamonchi – Street Art in Mexiko

Gerardo Yépiz sammelt AVON Flaschen und bekennt sich zu seiner Liebe für Ramsch – “Schönheit zu finden in allem, was gewöhnlich und beliebt ist”. Er wurde 1970 in Ensenada geboren und lebt seit 1997 in San Diego. In den letzten zehn Jahren hat Yépiz ein Projekt mit dem Titel ACAMONCHI entwickelt.
Über seinen eigenen Schaffensprozess, in welchem seine Kunst entsteht, macht er sich gleichzeitig lustig. Er braucht keinen unnützen Skandal, seine Arbeiten sprechen für ihn. Seine Konstanz und Beharrlichkeit sind wichtiger als jegliche Nachahmung.
Was treibt einen 35-jährigen postmodernen Störenfried, einen klassischen Maler – kurz gesagt: einen autodidaktischen Künstler − um? Yépiz ist eine Kombination aus Arbeitswut, Talent, technischer Spezialisierung und konzeptueller Klarheit. Die meisten Künstler würden ihr Leben dafür geben, wenigstens eine dieser Fähigkeiten zu besitzen, und so überrascht es kaum, dass man so vielen Kopien seiner Werke begegnet.
Mexiko ist ein verschuldetes Land, in dem Recht und Ordnung nicht unbedingt gewährleistet sind. Trotzdem haben wir den weltweit zweithöchsten Coca-Cola-Verbrauch und sind Vizeweltmeister im Fernsehkonsum. Unterwegs in der Stadt, begegnet man vielleicht einem Indio, der mit einem Burger- King-Becher bettelt – unsere Politiker geben ein Vermögen für landesweite Kampagnen aus, aber ehrlich gesagt kümmert es uns nicht. Es gibt keinerlei Aktivistengruppierung, die gegen diese Dinge kämpft, und die Medien sind eine Art Zirkus, eine geschickte Täuschung, die zeigt, in welchem Schwindel wir leben. Im Design wiederholt sich die nationale Stagnation von Form, Denken und Kreativität.
Inmitten, wegen und trotz all dieser Dinge startete ACAMONCHI 1997 als eine Art Fanzine zur Förderung örtlicher Künstler und Musiker. Bald wurde daraus ein umfassendes und ehrgeiziges Kunstprojekt.
Zunächst war ACAMONCHI eine Sammlung von Kitschikonen, die zum mexikanischen Klischeebild gehörende Idole und Figuren verwendete, unter anderem Colosio, den ermordeten Präsidentschaftskandidaten (der sechs Jahre nach seinem Tod als Märtyrer gilt, als tapferer und nicht korrumpierbarer Mann, dessen Mut den Stolz der Nation verkörpert). Niemand schien sich an sein früheres Image zu erinnern: Ein Mann, der die 70 Jahre währende Vormachtstellung der PRI Partei fortsetzen sollte, die verantwortlich war für Mord, Erpressung, Massaker (1968), wirtschaftliche Rezession und Filz.
Auf einem Schablonen-Graffito lächelt Colosio und sagt: “Ich komme wieder”. Davon gibt es viele andere Versionen, darunter eine mit seinem Gesicht auf dem Körper von James Bond vor einem Hintergrund aus vergossenem Blut. Eine andere zeigt Colosio als Astrolosio mit einem Astronautenhelm. Damit will ich nicht sagen, dass ACAMONCHI die Regierung kritisiert, es ist auch keine Form von gesellschaftlichem oder politischem Aktivismus; ich würde eher sagen, dass ACAMONCHI wie die Reaktion eines Jugendlichen wirkt auf das, was in Mexiko oder den USA passiert – es ist, was wir alle schon mal über unsere Regierung gesagt haben („dreckige Verbrecher!“) oder die Haltung, die wir als Jugendliche gegenüber unseren Eltern hatten, als wir unerträglich, grausam, ironisch und zynisch waren.
Es gibt keinen roten Faden in dieser Arbeit und dementsprechend auch keine unmittelbare Botschaft – fast alle Frames und Schablonengraffiti sehen wie eine Reihe unabhängiger Ideen aus (die zusammen normalerweise Sinn ergeben). Man kann versuchen, sie zu verstehen, aber es bleibt immer persönliche Interpretation, was vielleicht ein einfacher Witz ist (oder vielleicht auch nicht), für uns, für jeden, selbst über ACAMONCHI hinaus.
"Ohne zentralisierte und hierarchische Kontrolle werden lokale Eingriffe in die Strukturen der kulturellen Reproduktion und gesellschaftlichen Produktion nicht nur unterhaltbar, sondern manchmal sogar unterhaltsam."(3)
Er nennt es “absurdistische Propaganda”. Die offensichtlich sinnlose Intervention in einem öffentlichen Raum, der von politischer Propaganda dominiert wird: Wenn die Kandidaten das Blaue vom Himmel versprechen können und sich auf die Naivität, Unwissenheit und absolute Dummheit der Bevölkerung verlassen können, warum sollte ACAMONCHI nicht dasselbe tun? Manchmal verdrängen wir unbewusst mit unserer blasierten Haltung (Georg Simmel) alles Schlechte und Unangenehme um uns herum: Wir kapseln uns ab, nach einer Reizüberflutung durch einfache Situationen wie etwa dem Heimweg von der Schule in einer Stadt wie Mexiko City. Wir schaffen uns unsere eigene Amnesie, um unser Unwohlsein ohne Qual ertragen zu können. Aber was passiert, wenn etwas unseren gewohnten lieb gewonnenen Trott erschüttert, etwas Ungewöhnliches in unserem Sichtfeld, etwas, das unsere Reaktion herausfordert, ungeachtet unseres alten gezähmten Gehirns? Dann bemerken wir etwas, was wir oft gesehen, aber nie wirklich bemerkt haben. ACAMONCHI steht für diese Irritation, diese Bombardierung (die wir nie wollten, aber vielleicht verdienen), die uns täglich gefangen nimmt. Es setzt bei unserer eigenen Apathie an und verwendet die Straße (ein zuvor geschmähtes Milieu) als Leinwand, ja als unerschöpfliche Quelle von Ideen, Zeichnungen, umgangssprachlichen Typographien, Kitschillustrationen, banalen Botschaften und bizarren Darstellungen.
Einer der Haupteinflüsse ACAMONCHIS ist Punkmusik. “Ich habe nie irgendein Instrument erlernt. Für mich war Punk der Austausch von Fanzines, Kassetten, selbstbemalten T-Shirts, Jacken und Skateboards. Meine Lieblings-Punkbands sind Crass, Subhumans, Discharge, Rudimentary Peni, GBH, Butthole Surfers, Dead Kennedys, Political Asylum, Blut & Eisen, Neurotic Arseholes, Terveet Kadet, Conflict, Flux of Pink Indians, Drunk Injuns, Minor Threat, Final Conflict und viele andere.” Yépiz definiert sich selbst als Autodidakt, mit dem Recht auf Nonkonformität; schließlich entschied er sich dafür, sich aktiv für Veränderungen einzusetzen, anstatt sich nur zu beklagen und in leere Apathie zurückzuziehen. ACAMONCHI war und ist autonom: Gerardo Yépiz hatte nie irgendein Stipendium, nie Sponsoren oder Mäzene, reiche Eltern oder ein ausreichendes Einkommen, um zur Universität zu gehen. Er ist stolz auf diese Unabhängigkeit, er konzentriert sich auf seine Arbeit, darauf, zu fotografieren und selbst zu entwickeln und zu bearbeiten, Siebdrucke herzustellen, Plakate, T-Shirts und Aufkleber zu drucken und diese Plakate dann aufzuhängen, die T-Shirts zu verkaufen und seine Aufkleber in der Welt zu verbreiten – er hat keine Zeit zum Posieren wie all diese anderen Künstler, die wir, leider, alle kennen.
Ob auf Postern, Gemälden oder T-Shirt-Motiven, überall finden sich die gleichen Merkmale seiner Arbeit, wie Graffiti- oder Pop Art-Einflüsse. Die Grafiken und Techniken umfassen in der Regel Sprayen und Siebdruck; die Schablonengraffiti, die klein wie ein DinA4-Blatt oder auch bis zu drei Meter hoch sein können, stellen bekannte Ikonen der mexikanischen Musik, Politik und Medienwelt dar. Die Palette ist recht seltsam; Yépiz kauft sein Material normalerweise bei Farb-Restverkäufen und findet sie unter den “abgelehnten Farben“: Deshalb können wir bei ihm scheußliche und doch scheinbar neue Grüntöne finden, die zusammen mit anderen Farben Analogien bilden, oder, wie so oft, monochrome Arbeiten. Strukturen sind ein grundlegender Bestandteil seiner Arbeit; häufig sieht man bei ihm Kompositionen mit länglichen goldenen Fadenstrukturen, die beim Druck mit alten Holzlatten entstehen, mit stark texturierter Farbe und voller unentzifferbarer Gebilde.
Das ist eine der Hauptstrategien von ACAMONCHI: einerseits Sättigung und andererseits Andeutung. Er zwingt den Betrachter, aufmerksam zu sein, sich selbst in den Kontext hineinzuversetzen und so auf das zu reagieren, was der Künstler vorschlägt. Seine Kunst ist nicht schwer zu verstehen, und wir brauchen keine komplizierten wissenschaftlichen Theorien dafür. Das macht diese Arbeiten so erfrischend, sie tun nicht so, als wären sie etwas, was sie nicht sind: ACAMONCHI formt, was passiert, was wir nicht sehen wollten, aber es sieht tatsächlich auch gut aus mit ein paar Tupfern Orange; wir erfahren, dass es keine schrecklichen Dinge gibt, die wir nicht ändern könnten. ACAMONCHI erinnert uns an die unscheinbaren und verhassten Dinge, die auch zu unserem täglichen Leben gehören, und anstatt diese mit einem japanischen Designspielzeug zu ersetzen, könnten wir sie retten, selbst wenn wir sie für Abfall halten. Sein Werk sagt uns, dass Mexiko vielleicht nicht das ist, was uns die Medien glauben machen wollen, aber dass es so schlecht nicht ist und dass es immer auch eine komische Seite des Lebens gibt, dass wir damit spielen können, und über unsere Politiker und die Bürokratie lachen können, genauso wie über Künstler, Kuratoren und Kritiker, die jeden noch so schlechten Versuch zum Meisterwerk hoch loben.





1 Mark C. Taylor, Esa Saarinen: Imagologies, Media Philosophy,1996.
2 NORTEC ist eine Initiative von Bands aus dem Bereich elektronische Musik, die unter anderem Banda Sinaloense-Samples benutzen: Schlagzeug, Percussion und Trompeten aus der traditionellen mexikanischen Musik. Daraus wurde eine richtige Bewegung, die Designer, Künstler und Architekten umfasst, vgl. Tijuana Sessions.
3 Mark C. Taylor, Esa Saarinen, a.a.O.






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