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Antonio Negri  im Porzellanladen
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2010, 2
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Antonio Negri im Porzellanladen

Zeitschrift Umělec 2010/2

01.02.2010

Palo Fabuš | lösungen | en cs de ru

Wenn wir uns die Frage stellen, welche eindeutige Botschaft die postmoderne Theorie hinterlassen hat und ob es eine solche Botschaft überhaupt gibt, hätten wir ziemlich damit zu tun, uns auf eine Fassung zu einigen. Ihr Beitrag lässt sich zwar nicht auf Begriffe wie Verschwommenheit, Uneindeutigkeit, Verwirrung oder bloße Skepsis reduzieren, aber nach einer Lösung würden wir eher vergeblich suchen. Davon ist auch der politische Philosoph Antonio Negri, italienischer Neomarxist und führende Persönlichkeit der autonomistischen Bewegung, überzeugt, wenn er dem postmodernen Denken Verantwortungslosigkeit, gedankliche Schwäche und Inkonsistenz vorwirft.
In der vom Verlag semiotext(e) herausgegebenen Sammlung The Porcelain Workshop: For a New Grammar of Politics definiert er die Postmoderne als bedeutenden Epocheneinschnitt und verwirft so faktisch theoretische Tendenzen, nach denen wir keine tiefgehende Restrukturierung der Gesellschaft, sondern „lediglich“ eine Radikalisierung der Prozesse der Moderne erleben, wie zum Beispiel in den Werken Anthony Giddens´ zu lesen ist. Während Negri die Schlussfolgerungen von Autoren wie Lyotard, Baudrillard oder Virilio hinsichtlich einer ausweglosen Situation – verursacht durch die Fetischisierung und Komodifizierung der Welt – ablehnt, bezeichnet er das Erbe der moralistischen Einstellung der Frankfurter Schule als relativ vulgär. Den postmodernen Einschnitt begründet Negri mit vielerlei Erscheinungen. Die erste ist die heutige Hegemonie nichtmaterieller (kognitiver, kommunikativer, affektiver…) Arbeit, die zweite dieser Erscheinungen sind Ausdrücke hoheitlicher Gewalt, die man mit dem Foucaultschen Begriff Biomacht (das heißt eine alle Sphären des Lebens beeinflussende Macht) definieren kann, die eine disziplinierte Gesellschaft in eine kontrollierte Gesellschaft verwandelt. Bei der dritten geht es um die geschwächte Rolle des Nationalstaates durch den Globalisierungsprozess zugunsten eines Empire und der Multitude. Die vierte Erscheinung ist dann die reale und definitive Unterordnung der Gesellschaft unter das Kapital.
Mit dem Gebrauch der Begriffe Empire und Multitude knüpft Negri an das zusammen mit Michael Hardt veröffentlichte Buch Empire aus dem Jahr 2000 an, das als kommunistisches Manifest des 21. Jahrhunderts angesehen wird. Unter Empire verstehen die beiden Autoren die heutige Machtordnung, die sich durch drei Arten von Macht gleichzeitig konstituiert: die monarchistische (internationale Organisationen, NATO, G8-Staaten und ähnliche), oligarchische (überstaatliche Korporationen) und demokratische Macht (auf der Ebene der Nationalstaaten und Nichtregierungsorganisationen). Die Macht des Empire verharrt nicht in einer stabilen Position, sondern verlagert sich konstant durch von der imperialen Souveränität und politischen Subjektivität geschaffenen Netze. Der fundamentale Ausgangspunkt des Buches Empire ist die Behauptung, dass die Kreativität und der politische Kampf des Proletariats immer den Verschiebungen der Formen des sozialen und ökonomischen Lebens im Kapitalismus vorangehen und sie vorstrukturieren.
Multitude ist ein Begriff, dessen Ur-
sprung in die antike Philosophie reicht; in Negris und Hardts Version entspringt sie der politischen Philosophie Benedict Spinozas. Multitude leitet sich in erster Linie vom Verhältnis zwischen konstitutiver Form (Singularität, Invention, Risiken) und Machtanwendung aus. Das Kapital war schon immer dazu fähig, die Multitude gewissermaßen als eine Kollektion von Singularitäten auf etwas Organisches und Einheitliches (Klasse, Volk, Masse) zu reduzieren; nach dem postmodernen Einschnitt verliert das Kapital diese Fähigkeit aber allmählich. „Multitude muss als nichtorganische, differenzierte und mächtige [puissante] Vielfältigkeit [multiplicity] wahrgenommen werden“, schreibt Negri. Und weiter: „Die Handlungseinheit der Multitude ist die Vielfältigkeit der Ausdrucksformen, deren sie fähig ist.“
Von einer Multitude der Ausdrucks-formen zu sprechen, ist hier völlig angebracht, wenn wir Negris Faszination für den Übergang zur postindustriellen Ökonomie mit der Metamorphose dessen, was man gewöhnlich unter Produktionsmitteln verstand, in Zusammenhang bringen. „Heute haben wir alle Produktionsmittel selbst im Kopf“, sagt er. Die Arbeit wird damit dem Leben gleichgesetzt. Und falls das Leben kein „Äußeres“ hat und nur als „Drinnen“ empfunden werden muss, kann seine einzige Dynamik die Dynamik der potence (bzw. der biopolitischen Gewalt, im Sinne von puissance) sein.
Nicht zuletzt verstehen Negri und Hardt
die Multitude als die bedeutende Ver-
wirklichung von Spinozas Unterscheidung zwischen den nur äußerst schwierig zu übersetzenden Termini potentia und potestas. Auch die englischen Äquivalente force und power erfordern eine weitere, ergänzende Erklärung: potentia stellt die Basis politischer Gewalt in effektiv kombinierter menschlicher Aktivität dar, während potestas sich im mittelbaren Ausdruck politischer Institutionen und Entscheidungen konzentriert. Den Unterschied sieht Negri darin, dass die potestas als Vermittlungsinstanz für eine unzureichend entwickelte Gesellschaft wie zu Spinozas Zeit unvermeidlich war, wohingegen sie sich heute nicht mehr auf diese Rechtfertigung stützen kann.
Das ist durch den scheinbar abstrakten, aber fast allgegenwärtigen Faktor der Messbarkeit bedingt. Weil Maß und Unterschiedlichkeit wertvolle Instrumente der Disziplin und Kontrolle sind, betont Negri, dass Macht messbar sei, während das Potential [puissance] – im Gegenteil dazu – nicht messbar, sondern bloßer Ausdruck nichtreduzierbarer Differenzen ist. Der Hauptgedanke, auf den Negri deshalb immer wieder zurückkommt, ist die Krise aller Regeln und Formen der kapitalistischen Entwicklung, die Krise der Gedanken um die Messbarkeit der Entwicklung, die Krise der rationalen Kriterien. Allerdings ist es nach Negri keineswegs die Nichtmessbarkeit, sondern die Position der Produktion von Subjektivierungsprozessen, die gänzlich außerhalb jeglicher Messbarkeit liegen. Damit liegt die Nichtmessbarkeit auch jenseits der Art und Weise, wie wir uns der Zeit nähern oder die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Recht begreifen. So erscheint es legitim, wenigstens als eine Tendenz das Ende der Ausbeutung in Erwägung zu ziehen.
Die Horizontale des Lebensganzen, die in den Bereich der Macht gehört, durchdringt die Unterbrechungsvertikale der modernen Machtbeziehungen und bietet einen Widerstand für die Subjekte, denen sie aufgezwungen worden sind. Die Biopolitik ist der widersprüchliche Kontext des Lebens, d.h., dass sie auf dem gesamten Feld des Sozialen die Existenz ökonomischer und politischer Widersprüche darstellt, aber auch die Emergenz singularisierter Widerstände, die sie sättigen.
Der italienische Philosoph lehnt den Essentialismus, aber auch den Relativismus ab – die Lösung sieht er in der Produktion von Subjektivität, in kreativer Ontologie, wie sie im radikalen Feminismus der neunziger Jahre von Judith Butler bis Donna Haraway auftritt (hier ist der Autor ausnahmsweise konkret in seiner sonst sehr abstrakt gehaltenen Abhandlung). Nur so können wir am Demokratiehorizont eine Demokratie der absolut realisierbaren Form einheitlicher Multitude erblicken. Mit dem Schlusssatz des Autors in seiner Abhandlung gesagt: „Multitude werden heißt, Demokratie werden.“



Aus dem Tschechischen von Michael Kniehl.




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