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In transition. Oder: Wohin zerstörte und andere Träume führen
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2011, 1
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In transition. Oder: Wohin zerstörte und andere Träume führen

Zeitschrift Umělec 2011/1

01.01.2011

Alena Boika | in transition | en cs de

In Jekaterinburg war ich wegen der zweiten Auflage von In Transition – einem internationalen Projekt, das eine Ausstellung und ein Symposium beinhaltet. Wie der Name schon sagt, beschäftigt sich das Projekt mit Problemen „heimatloser“ Menschen – Migranten, Flüchtlingen und Heimkehrern. Die Teilnehmer der Ausstellung werden auf Grundlage eines offenen Wettbewerbs im Internet ausgewählt und anschließend von den Organisatorinnen des Projekts – Helene Black und Sheila Pinkel (den Gründerinnen von NeMe, einer unabhängigen Kunstorganisation mit Sitz in Limassol, Zypern) ernannt. Die erste Ausstellung fand 2006 auf Zypern statt. Die zweite Auflage des Projekts trug den Titel In Transition Russia und wurde im Herbst 2008 in Jekaterinburg und Moskau durchgeführt. Die Organisatoren – selbst „Heimatlose“ – waren von Carole Kismarics Buch Forced Out: The Agony of The Refugee In Our Time (1989) inspiriert, dessen Veröffentlichung von einer großen Wanderausstellung begleitet wurde. Seitdem ist die Anzahl an vergangenen und gegenwärtigen Militärkonflikten, Naturkatastrophen, ökonomischen und politischen Krisen hoch genug, um die Anzahl „heimatloser“ Menschen fortschreitend anwachsen zu lassen. Manchmal scheint mir, dass wir – die „Heimatlosen“ – den größten Teil der Erdbevölkerung ausmachen. Deshalb halte ich die vom Projekt angesprochenen Probleme sowie die Tatsache, dass Künstler diese Probleme in ihrem Schaffen thematisieren, für zeitgemäß und aktuell, auch wenn die beschriebenen Ereignisse schon einige Zeit zurückliegen.
Man kann sagen, dass in der Epoche der Globalisierung, der Beschleunigung, der Interdependenz etc. die physische Heimatlosigkeit keine Ausnahme darstellt und dass Migration einen natürlichen Teil dieser Prozesse bildet. Nichtsdestoweniger sind die am häufigsten verwendeten Phrasen, die Menschen heutzutage aussprechen und einander in SMS-Nachrichten zukommen lassen Where are you? und I am lost. Diese Phrasen sind in keiner Weise miteinander verbunden, und die zweite ist keine Antwort auf die erste. Wir fragen Personen, die uns mehr oder weniger nahe stehen danach, wo sie sind und versuchen dabei, die Koordinaten der eigenen metaphysischen Lage zu bestimmen. Das, was uns vereint, ist die Furcht vor dem Chaos, das aus der immer größeren Beschleunigung und der Unmöglichkeit entsteht, immer größere Mengen an Information aufzunehmen und zu verarbeiten. Unter den Bedingungen von Heimatlosigkeit und Migration ist die Vereinfachung und gegenseitige Durchdringung der Sprachen nichts Widersprüchliches oder Außergewöhnliches, im Gegenteil – es scheinen natürliche Prozesse zu sein. Ein großer Teil der Weltbevölkerung hat die Möglichkeit erhalten, den eigenen Standort zu ändern. Doch diese Möglichkeit ist zugleich ein Zwang, der ihnen durch militärische, kulturelle oder Naturkatastrophen auferlegt wird. Physische Dinge verlieren dabei ihre praktische Bedeutung, die Erinnerungen verblassen. Der Mensch, der seit der Kindheit an ein Zuhause gewöhnt ist, bemüht sich anfangs, wie aus einem Legobaukasten so etwas wie ein Haus zu bauen – aus Umständen, Bildern, Gerüchen, Wörtern, indem Verlorenes und Gewonnenes wählerisch vermischt wird. Diese Versuche aber sind – ungeachtet des manchmal ziemlich überzeugend aussehenden äußerlichen Erfolgs – vergebens. Die Welt der Kunst schlägt hierfür ein anschauliches Beispiel vor: So bekennt Nathan Sawaya, der aus bunten Klötzen ein Lego-Cello gebaut hat – ein Saiteninstrument, ähnlich wie ein Kontrabass – dass man auf ihm spielen kann, doch der Klang, dem man ihm entlockt, ist weit von dem entfernt, was wir als Musik bezeichnen.
Als Emigrantin, die schon seit sechs Jahren versucht, sich in eine fremde Kultur zu integrieren, habe ich das Recht zu solchen Statements. Das, was sich in den Bedingungen der Zwangsintegration herausbildet und unheimlich verstärkt, ist Individualismus und Personalisierung – der Versuch, die fremde Kultur durch das Prisma der eigenen zu verstehen und anzunehmen, wobei die eigene mit der Zeit ausgewaschen wird und ihre materielle Bedeutung verliert. In der ersten Zeit hält sich das „heimatlose Individuum“ noch fest, sucht Rettung in der Sprache, welche mit der Zeit ihre Geschmeidigkeit und Plastizität verliert, verarmt, sich vereinfacht und gleichzeitig mit fremden Wörtern und Intonationen auffüllt. In einem bestimmten Moment hörte ich plötzlich alles – die Welt explodierte in Wörter und Sinne und in Wörter ohne Sinn. Ein dumpfer Lärm, der bisher nicht bis zu meinem – durch milchige Wände des Nicht-Verstehens abgeschlossenen – Bewusstsein durchgedrungen war, stürzte plötzlich wie eine Lawine in das platzende Aquarium. Und all die erwachten und verendeten goldenen Fische der fremden und eigenen vergessenen Worte sprangen nach allen Seiten. Seit dem Moment, in dem jeder Satz, den man hinter meinem Rücken auf Englisch oder Tschechisch sprach, plötzlich verständlich wurde, ist das Karussell im Gange, wenn sich das Bewusstsein – auf der Jagd nach sich selbst – bemüht, das eigene entflohene „Mittel des Ausdrucks“ am Schweif zu packen. Die Sprache in ihrer ursprünglichen mündlichen und schriftlichen Form wird zu einer beschränkten Sprache, und die untröstlich kategorische Gewissheit dieser Tatsache drängt zu verzweifelten Versuchen, Rettung im Visuellen zu finden.
Die Universalität der visuellen Sprache, in der Abbildungen keine Textbegleitung erfordern und „für sich selbst“ sprechen, können wir leider nicht auf die zeitgenössische Kunst anwenden, bei der es häufig vorkommt, dass Kunstwerke ohne einen vom Künstler oder Kurator geschriebenen Text nicht oder nur unvollständig verstanden werden können. Auf diese Weise entlarvt sich der „rein visuelle Sinn“ als reine, verschämte Fiktion.
Und so ist alles, was dem „heimatlosen Individuum“ bleibt, sein eigenes Bewusstsein und Gedächtnis, auf das es zurückgreift, wenn es versucht, sich an die Umwelt anzupassen, die ungeachtet aller scheinbaren Annäherungsversuche niemals selbstverständlich und heimisch wird. Aber diese Versuche, die in den verschiedensten Formen der schöpferischen Verzweiflung unternommen werden, sind unzweifelhaft von Interesse für den wissbegierigen Forscher, der ich auf meinem langen Weg durch die Texte, Bilder und Schicksale von In Transition war. Im Folgenden werden nur einige von ihnen präsentiert. Und es sollte bemerkt werden, dass ich keinen kritischen Zugang zu dem einen oder anderen Projekt oder Werk wählen wollte, da es sich zum größten Teil um autobiografische Dramen handelt, die mit unterschiedlichen Mitteln und Stufen der Verzweiflung zum Ausdruck gebracht wurden. In diesen Situationen ist es angebracht, sich auf die Arbeiten einzelner Künstler und Forscher zu konzentrieren, die illustrieren, welche Formen die Erwägungen, Erlebnisse, Tragödien und Studien annehmen können, und die durch die gemeinsame Bezeichnung In Transition vereint werden.

Ein seltsames Wesen zwischen Blumen und Grabsteinen
Von dem Foto schaute mich ein großes Augenpaar an, das trotz des dichten Schnurr- und Kinnbarts zweifellos einer Frau gehörte. Der Blick der verkleideten Frau passte nicht besonders zu ihrer Umgebung: Die Aufnahme wurde nämlich auf einem Friedhof gemacht. So lernte ich die senegalesische Künstlerin Monira Al Qadiri kennen, die unter dem Einfluss ihrer Mutter, einer bekannten Schriftstellerin und Künstlerin, bereits sehr früh mit dem Zeichnen begann. Im Alter von sieben Jahren erlebte sie den Krieg am Persischen Golf. Ihr Interesse an einem Studium der japanischen Kultur und Animationskunst führte sie bis nach Japan, aus dem sie nach den Erfolgen ihres Doktorandenprogramms vor kurzem nach Kuwait zurückgekehrt ist.
Monira über sich selbst: „Als Araberin habe ich mich immer in der Mitte einer kulturellen Identitätskrise befunden. Deshalb habe ich beschlossen, in dem Land zu leben, dass so weit weg von meinem liegt, wie ich es mir nur vorstellen kann: Japan. Als Frau habe ich mich in meiner eigenen Haut nie wohl gefühlt, so dass ich mich immer bemüht habe, maskuliner auszusehen, als ich bin. Dabei bin ich sogar so weit gegangen, mich wie ein Mann zu kleiden. Als ich als Kind den Krieg erlebte und zum ersten Mal dem Tod begegnete, verlor ich das Vertrauen in konventionelle Moralsysteme und schuf mir meinen eigenen Glauben.“
Die Fotografie, zu der ich wieder und wieder zurückkehrte, hatte Monira auf einem japanischen Friedhof aufgenommen, auf dem sie, als arabischer Mann verkleidet, posiert. Dieses Motiv setzt sich in vielen ihrer Arbeiten fort. Im Film Wa Waila (Oh Torment, 2009), was auf Deutsch soviel wie „Oh Pein“ bedeutet, singt sie ein trauriges Lied von Abdul Wahab Al Rashid über die Liebe und die Leidenschaft. Das Lied bekommt einen ganz anderen Klang durch Vermischung der sexuellen und sozialen Rollen der Beteiligten, die dick mit Bühnen-Make-up geschminkt und in theatralisch wirkende Kostüme gekleidet sind. Das Folklore-Lied, das traditionellerweise von männlichen Interpreten in Begleitung von Tänzerinnen gesungen wird, klingt aus dem Mund der als Mann verkleideten Künstlerin ironisch, während die Tänzerinnen von geschminkten Männern gespielt werden.

Eine zierliche Silhouette mit einem großen Koffer vor dem Hintergrund einer verschwindenden Landschaft
Während in Morinas Arbeiten ein starker Einfluss der japanischen Kultur auszumachen ist, gibt Adam Buczek, der zum Studium nach London kam und dort geblieben ist, ironisch zu, dass er „die konzeptuelle Belastung seiner Ausbildung im Bereich Fotografie aus Polen mit sich tragen musste“. Obwohl Adam mit Medien wie Video-Installationen, interaktiven Objekten und Statuen arbeitet, fesselte ein – in technischer Hinsicht viel sparsameres – Projekt meine Aufmerksamkeit, was höchstwahrscheinlich auf die Übereinstimmung mit meinen eigenen Gedanken und Erinnerungen zurückzuführen ist. Torn Out – Ausgerissen ist eine Serie von Fotografien, auf der die Leute aus der Landschaft ausgeschnitten und stattdessen schwarze Silhouetten zu sehen sind. Mich hat diese Ähnlichkeit im Empfinden unheimlich überrascht. Einmal, als ich nach einer langen Zeit der Abwesenheit aus Belarus zurückkehrte, sagte mein Freund zu mir: „Du siehst hier so seltsam aus, als ob Du mit einer Schere ausgeschnitten seist und auf die Landschaft gelegt worden wärest.“ Es war amüsant, denn ich empfand eine gewisse Entfremdung. Obwohl die Landschaft nicht feindlich war, aber doch einfach fremd, wie nur etwas fremd sein kann, zu dem du schon nicht mehr zurückkehren kannst.
Die Lieblingsbeschäftigung von Nana Varveropoulou aus Griechenland, die sich wie Adam Buczek in London niedergelassen hat, ist die Beobachtung der Landschaft. Auch in ihrem Fall hat mich ein Projekt fasziniert, das sich von ihrem restlichen Werk durchaus unterscheidet und die Vergangenheit reflektiert. Das Projekt At Home entstand aus der Geschichte einiger griechischer Zyprioten, die 30 Jahre nach ihrer Vertreibung den Ort ihrer Geburt und Kindheit besuchten. Sie fürchteten, dass sie ihre Häuser und Dörfer in heruntergefallenem Zustand antreffen würden, entdeckten aber viele Male, dass sich die türkischen Familien, die in ihren Häusern lebten, gut um diese kümmerten. Sie entdeckten auch, dass viele ihrer Sachen noch benutzt wurden und sich sogar an den Orten befanden, wo sie sie 30 Jahre zuvor hinterlassen hatten.
Über den Zypern-Konflikt wusste ich anfangs nicht viel, die für Nanas Projekt ausgewählten Fakten machten ihn für mich aber viel greifbarer, als irgendein langweiliger Geschichtstext.

Verlorene Heimat
Im Gegensatz zu Nana sind kriegerische Konflikte und die Erlebnisse von Flüchtlingen für Alan Gignoux die Hauptthemen seiner Arbeit. Als Fotograf sucht er weder seine eigene Identität, noch reflektiert er Erinnerungen, sondern er interessiert sich für die sozialen Probleme der Menschen in Entwicklungsländern. Die Serie Homeland Lost ist ein fotografisches Essay, in dem Porträts palästinensischer Flüchtlinge den Orten gegenübergestellt werden, die sie oder ihre Eltern als Ergebnis des Krieges von 1948 verlassen mussten, der zur Gründung Israels führte.
Die meisten Menschen auf der Welt kennen den palästinensisch-israelischen Konflikt. Sie lesen Zeitungen und schauen fern, sind daran gewöhnt und reagieren nicht besonders, wenn sie die traurigen Frauen sehen, die schwarz gekleidet an den Gräbern ihrer Nächsten klagen oder traurig deren Porträts präsentieren. Niemanden kann man mit Abbildungen verstaubter und unrasierter Männer rühren, die, von den Waffen geschüttelt, schlagartig etwas auf Arabisch herausschreien.
Aber wie viele Menschen in der Welt wissen wirklich darüber Bescheid, was 1948 passiert ist? Das Ziel des Projekts von Alan Gignoux ist die Rückkehr in dieses Jahr, als 800 000 Männer, Frauen und Kinder vertrieben und über 500 Siedlungen zerstört wurden, um ihre Wiederkehr zu verhindern. Homeland Lost möchte denjenigen Menschen eine Stimme geben, deren Geschichte verändert und umgeschrieben wurde und die nun hoffen, gehört zu werden.

Putzt euch heraus
Óscar Gil ist kein Flüchtling oder Zwangsmigrant. Er ist das Beispiel eines erfolgreichen Forschers, dessen Fortbewegung durch Studienprogramme und in großer Zahl erhaltene Stipendien gelenkt wird. Das Projekt Guatemaltekische Zwangsmigration: die Fürsorgepolitik bei der Repräsentation von Flüchtlingen realisierte er zusammen mit dem Fotografen Manuel Gil im Jahre 2008. Das Projekt versucht, die Mechanismen der Repräsentation von Flüchtlingen in Bezug zu ihren Identitäten zu untersuchen, wie sie von Hilfs- und humanitären Organisationen genutzt werden, wenn diese die Notwendigkeit zur Fürsorge in einer humanitären Situation rechtfertigen. Auf dem ersten Paarfoto posieren die Teilnehmer vielleicht inszeniert, aber dafür nach ihren eigenen Vorstellungen und Wünschen, auf dem zweiten wurden sie dann zu medial und humanitär dankbaren Posen instruiert.

Verschwundene Spuren und Gesichter
Die Helden des Projekts von Mark Salvatus von den Philippinen, das in der Residenz in Seoul entstand, haben hingegen überhaupt keine Gesichter. Das Projekt Wrapped (Umhüllt) handelt von philippinischen Gastarbeitern, die fern von der Heimat um das Überleben ihrer Familien auf den Philippinen kämpfen. Hyewa-Dong ist das koreanische „Little Manila“, wo sich die Philippiner jeden Sonntag an der katholischen Kirche treffen, essen, sich unterhalten, philippinische Waren verkaufen, wo es die Möglichkeit gibt, günstig nach Hause zu telefonieren. Mark hat mit vielen Arbeitern gesprochen, lauschte ihren Erzählungen über das Leben und die Arbeit in der Fremde. Es stellte sich heraus, dass viele von ihnen illegal arbeiten oder die ihnen gewährte Aufenthaltsdauer überschritten haben. Es ist schwer für sie, auf die Philippinen zurückzukehren, weil sie dort keine Perspektiven haben, ihre Familie zu ernähren. Mit dem Einverständnis der Arbeiter hat der Künstler Dutzende Porträts aufgenommen. Doch die Gesichter der Menschen sind hinter Masken verborgen – ein zyklisches Muster, das eine immer noch vorhandene Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft, aber auch den zwangsweisen Verlust des Persönlichen symbolisiert.

I am not stupid, I am a Korean
Die koreanische Halbinsel ist die Heimat von Mi Hyun, die davon erzählt, dass sie bei ihrem ersten Besuch in Amerika sich sehnsüchtig wünschte, mehr Leute kennenzulernen. Sie nahm an, dass es in Amerika viele Leute aus unterschiedlichen Ländern geben müsse, die sich aufgrund ihrer unvollständigen Englischkenntnisse peinlich berührt fühlten. Sie hängte in ihrem Arbeitszimmer ein Poster an die Wand, auf dem stand: I am not stupid, I am a Korean. Am nächsten Morgen fragte die Technikerin aus dem Labor, ob sie Zeit für ein Gespräch habe. Die Technikerin gab zu, dass sie verlegen wurde, als sie am frühen Morgen in Mis Arbeitszimmer lief und das Poster erblickte, weil sie dachte, dass sie es war, die Mi zum Durchleben solcher Gefühle zwang. Mi war froh, dass die marginale Ausdrucksstärke ihrer Arbeit einen so schnellen Effekt gebracht hatte.
Die Frage nach Normalität und Dummheit stellt sich auch im Werk Simon Changs, der zum Studieren aus Taiwan nach Prag gezogen ist. Seine Serie they wurde in den Jahren 2005-2008 in einer psychiatrischen Klinik in Prag aufgenommen, einer der größten in Mitteleuropa. „Ich habe ungefähr zwei Jahre damit verbracht, mich darum zu bemühen, Lebensmomente und die Verfassungen der Patientinnen von Pavillon Nr. 2 einzufangen, die unter chronischen Depressionen leiden. Schon immer habe ich die Urteile derer angezweifelt, die sich im Recht dazu sehen, die ambivalente Grenze zwischen Wahnsinn und Normalität ermitteln zu können“, sagt Simon. In seiner fotografischen Studie versucht er, in der westlichen Gesellschaft den Ort auszumachen, an dem sich das Verständnis von „Normalität und Wahnsinn“ kardinal von den Werten und Normen der östlichen Kultur unterscheidet.

Alles, wovon wir/ihr so lange träumten/t
Die Poesie des Ostens finden wir auch bei der in Berlin lebenden Britin Elly Clarke. Obwohl Elly ständig umzieht, kann man nicht von ihr behaupten, dass sie ein Flüchtling sei. Sie verwirklichte den Traum vieler Romantiker, als sie eine Reise entlang der Transsibirischen Eisenbahn unternahm. Die Künstlerin hat sich auf der historischen Linie nicht nur von Punkt A nach Punkt B bewegt und Fotos aufgenommen – was schließlich jeder kann – sondern hat sich zehn Mitstreiter gesucht, alles zufällige Passagiere desselben Zugs. An diese hat sie Fotoapparate verteilt und ihnen vorgeschlagen, das aufzunehmen, was ihnen im Laufe der Reise interessant und wichtig erschien. „Von zehn Fotoapparaten kamen nur vier zu mir zurück, dafür mit wundervollen Fotos“, lacht die Künstlerin. Um das Projekt zu finanzieren und die Konferenz Transsibiria zu besuchen, zu der sie 2005 eingeladen war, organisierte die Künstlerin einen Vorverkauf eigener Fotogra-
fien, zu deren Aufnahmen sie sich zweimal am Tag verpflichtet hatte – jeweils um 10 und um 16 Uhr an allen zehn Tagen der Reise. Später erhielt dieser Teil des Projekts die Bezeichnung Ebay Alternative Funding Strategy und wurde in Galerien in Kanada, England, New York und vor kurzer Zeit in Berlin präsentiert.

Schwarz-weiße Tropfen, aber der Zug ist abgefahren
Züge und Zugreisen sind Themen, denen sich die in den USA, Mexiko und Europa lebende Künstlerin Sylvia de Swaan häufig widmet, die als kleines Kind den Holocaust überlebte und im Alter von zehn Jahren aus Rumänien emigrierte. Ihre Fotoserie Return reflektiert wie die meisten ihrer Arbeiten das Gedächtnis und seine Wandlungen mit der Zeit und beginnt Anfang der neunziger Jahre, als das Reisen innerhalb und über die Grenzen des sowjetischen Blocks einfacher wurde. Mehr als zehn Jahre lang versuchte sie, die Flüchtlingserfahrungen ihrer Eltern aufzuspüren. Die Welt, die sie hinter sich gelassen hatten, eine Welt der ausgebombten Städte, Züge und Flüchtlingslager, ihre Gerüche, Geräusche und kulturellen Werte, die kaum etwas mit der Welt gemeinsam hatte, in die sie später eintraten.

Zerstörung vs. Gentrifizierung
Emma Wilcox lebt auch in den USA. Aus ihrem Haus wurde sie aber von keinem Krieg vertrieben, sondern von der am eigenen Leib erfahrenen Gentrifizierung, von der sie bis dahin nichts wusste. Gentrifizierung ist die Rehabilitierung und Besiedlung heruntergekommener städtischer Gebiete durch Personen mit mittlerem und hohem Einkommen. In den 1970ern und 80ern begannen Fachleute mit höherem Einkommen, angezogen von niedrigen Wohnungspreisen und dem leichteren Zugang zum innerstädtischen Geschäftsbereich, baufällige Gebäude in vielen Großstädten zu renovieren, womit sie die Abwanderung der Familien und Personen mit höherem Einkommen aus vielen urbanen Gebieten rückgängig machten. Dies führte zu der Wiedergeburt mancher Stadtviertel und einem Anstieg der Eigentumswerte. Doch ergaben sich hieraus Probleme der Verdrängung ärmerer Anwohner, von denen viele älter und nicht in der Lage waren und sind, höhere Mieten und Steuern zu zahlen.1
Als ich meine Bekannten fragte, ob sie den Begriff Gentrifizierung kennen, antwortete nur einer von ihnen – ein Amerikaner – ohne Zögern auf diese Frage. Das Phänomen der Rassentrennung kannten hingegen alle. Das bestätigt, dass wir, die überall in Europa und insbesondere in Prag mit der Gentrifizierung in Berührung gekommen sind, wie sie z.B. mit der Aussiedlung unserer Redaktion im Jahr 2006 stattgefunden hat, diese zwei Begriffe nicht miteinander verbinden. Häufiger verwenden wir den Terminus Demolition – Abriss, Zerstörung – wie Martin Set 2007 das letzte Performancefestival nannte, das in der Werkstatt seines Vaters stattfand, die die Stadtverwaltung beschlossen hatte, ihm wegzunehmen.
In Amerika und besonders in dem Teil, der in den Projekten Emmas eine Rolle spielt – Newark, New Jersey – sind die Menschen mit dem Phänomen der Gentrifizierung sehr vertraut. Gentrifizierung ist ein Begriff, den man sich zwangsläufig merken, und der immer häufiger im alltäglichen Leben verwendet wird. Dennoch würde ich mir wünschen, solche Wörter gar nicht erst verwenden zu müssen.

Zum Abschluss
Vor verhältnismäßig kurzer Zeit haben wir erfahren, dass sich die tektonischen Platten, die die Erdoberfläche ausmachen, ununterbrochen bewegen. Dies führt zu Erdbeben – in der Regel an den Grenzen der Erdplatten. Wissenschaftler sprechen davon, dass es durchaus wahrscheinlich ist, dass ein Land, wie zum Beispiel die Türkei, von der Landkarte verschwinden kann – wie übrigens auch andere wundervolle Länder. Die Ozeane fließen über ihre Ufer, in den Wüsten fällt Schnee. Wir wissen all dies und können analysieren und erforschen, soviel wir möchten. Doch wir können die Bewegung der Platten nicht stoppen. Die Erscheinung In Transition zu studieren, ist eine spannende Beschäftigung. Dieses Phänomen taucht in unendlichen Varianten auf und endet nicht. Es geschieht überall. Und die Menschen in ihrer wunderschönen Sprachenvielfalt, mit einem von den Ortswechseln verzerrten Bewusstsein, sind für den wissbegierigen Forscher von besonderem Interesse. Doch die Platten bewegen sich. Und das Verständnis dieser Erscheinung sowie der Gefallen an diesem Verständnis können es immer noch nicht aufhalten, ja, sie werden es niemals aufhalten können.
Es lässt sich beispielsweise behaupten, dass sich in Folge von Umsiedlungen gewöhnlicherweise ein bestimmter Egozentrismus entwickelt, jedenfalls wenn wir von Individuen sprechen. In Fällen, wo es sich um ganze Gruppen von Menschen handelt, bildet sich hingegen ein übersteigertes Zusammengehörigkeits- und nationales bzw. ethnisches Zugehörigkeitsgefühl heraus. Aber was kann man über die mehr als hunderttausend Flüchtlinge sagen, die Kirgisistan im Laufe von drei Tagen im Ergebnis der kirgisischen Aggression verlassen haben. Eine Aggression, die gegen die ethnische Gruppe der Usbeken gerichtet war – ich weiß nicht, außer, dass ökonomische Faktoren Gewalt erklären, aber nicht rechtfertigen können.




1 The Columbia Electronic Encyclopedia Copyright © 2004, Licensed from Columbia University Press; übersetzt von Helena Maier.

Aus dem Russischen von Helena Maier.




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