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"What is to be done?"-"Do it yourself!"
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2005, 2
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"What is to be done?"-"Do it yourself!"

Zeitschrift Umělec 2005/2

01.02.2005

Olga Vašinkevič | interview | en cs de

Dmitry Vilensky machte Anfang der neunziger Jahre in Sankt-Petersburg durch seine künstlerische Tätigkeit und als Veranstalter von Fotoausstellungen, die die Entwicklung der Petersburger Fotografie hin zu einer selbständigen Kunstrichtung unterstützten, auf sich aufmerksam. 1995 gründete er zusammen mit anderen Petersburger Fotografen den Verband FOTOpostscriptum, der zahlreiche Ausstellungen russischer und internationaler Fotografen organisierte. Zwei Jahre später knüpfte Vilensky während einer Deutschlandreise Kontakte zu linken Intellektuellen. Nachdem er ein Ausstellungsprogramm im Palais Jalta (Ost/Westeuropäisches Kultur- und Studienzentrum, Frankfurt am Main) kuratiert hatte, dessen Thema die Lage in den osteuropäischen Ländern nach dem Zerfall des Sowjetblocks war, realisierte er mehrere Ausstellungsprojekte mit Fotografen aus diesen Ländern. Wertvolle Einblicke in das Innenleben des zeitgenössischen Kunstbetriebes gewann er durch seine organisatorische Arbeit im Rahmen von Manifest IV. Vilensky saugte die Ideen der europäischen “Neuen Linken” in sich auf und kehrte mit dezidierten Ansichten bezüglich der Rolle von Kunst als einer Form gesellschaftlichen Handelns nach Russland zurück. Während er weiterhin selbst als Künstler aktiv war, repräsentierte Vilensky in den folgenden Jahren Russland auf angesehenen Ausstellungen und arbeitete mit progressiven internationalen Institutionen wie dem Rooseum (Malmö) oder dem Festival Next 5 minutes (Amsterdam) zusammen. Das Interview führte Olga Vasinkevich.

- Sie sind 1997 nach Deutschland umgezogen. Welche Gedanken und Ideen hatten Sie damals, auf welchem Stand befand sich Ihre künstlerische Entwicklung?

- Im Jahre 1997 beschäftigte ich mich hauptsächlich mit Fotografie. Zu der Zeit war ich schon einer der führenden russischen Fotografen und nahm an verschiedenen Kunstveranstaltungen in der ganzen Welt teil. Damals arbeiteten wir in einem sehr romantischen Stil namens Fotoarchäologie. Und meiner Meinung nach ist es mir gelungen, wichtige Züge der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu Perestrojka-Zeiten einzufangen. Eigentlich hatte ich vor, mich nach meiner Übersiedelung mit Fotografie zu beschäftigen, und nach einem halben Jahr fand ich einen kleinen, nicht kommerziellen Verein, Palais Jalta (Ost/Westeuropäisches Kultur- und Studienzentrum), ein Kulturzentrum, das von ernsthaften Menschen mit linken Ansichten gegründet worden war, die aus dem Umfeld der antikapitalistischen Bewegung der siebziger und achtziger Jahre kamen. Im Palais Jalta trafen sich sehr interessante Persönlichkeiten; zum Vorstand gehört unter anderem Gerd Koenen, ehemals führendes Mitglied des Kommunistischen Bund Westdeutschland und ein Freund von Pol Pot, so merkwürdig sich das heute auch anhören mag. Ein anderer Beteiligter hatte aufgrund seiner Verbindungen zur zweiten Generation der RAF im Gefängnis gesessen. Aber in den neunziger Jahren wurde aus ihnen allen eher eine normale deutsche Intelligentia im sowjetischen Sinne des Wortes, das heißt, sie verließen die Politik und beschäftigten sich fortan mit ihren zivilen Berufen. Dabei bewahrten sie zwar eine radikal ablehnende Haltung gegenüber dem gesellschaftlichen System, aber sie verzichteten darauf, etwas zu ändern. Zudem vereinigte sie eine Sympathie für Osteuropa. Sie reisten viel in diese Länder, beherrschten die ungarische, rumänische, tschechische Sprache. In den neunziger Jahren waren sie stark von Albanien begeistert. Man beschäftigte sich sehr mit der jugoslawischen Situation. Es gab aber auch eine kleine, nach Russland orientierte Gruppe, mit der ich leicht eine gemeinsame Sprache fand. Ich hatte damals die Idee, auf dem Gebiet der modernen Kunst ein neues Programm mit dem Schwerpunkt Fotografie zu schaffen. Und weil die Tätigkeit der ganzen Institution interdisziplinär angelegt war, entstand ein sehr interessanter Kontext für die Ausstellungen an einem Ort, wo ständig politische Debatten verliefen, Zusammentreffen mit Schriftstellern und politischen Funktionären durchgeführt wurden, Versammlungen von verschiedenen ethnischen Vereinigungen stattfanden, usw. Es herrschte die tolle und sehr antiinstitutionelle Atmosphäre eines demokratischen Chaos. Für mich als jemand, der aus sowjetischen Dissidentenkreisen kam, war diese Erfahrung entscheidend. Zu sowjetischen Zeiten waren wir alle - laut heutiger Terminologie - linke Liberale, die zwar die Vorstellungen von der menschlichen Gleichheit und Würde bewahrten, aber gleichzeitig von den Ideen der Freiheit begeistert waren, die wir damals mit der Marktwirtschaft verbanden. In unserer Gesellschaft, in der der Staat alles reglementierte, wurde die Freiheit ausschließlich als private Praxis aufgefasst. Dabei hatten wir keine Ahnung davon, was realer Kapitalismus war, und machten uns kein Bild von seinen Gefahren. Und wirklich, um mit dem Kapitalismus zu kämpfen, musste man ja erst einmal diesen Kapitalismus haben. Und das, womit wir in Russland in den neunziger Jahren zu tun hatten, war eher ein Chaos, in dem alle klassengebundenen Orientierungspunkte des sozialen Gefüges abhanden gekommen waren.
Zum Zeitpunkt meiner Abreise gab es in Russland keine Erfahrung mit “neuen Linken”, also mit den Menschen, die vor dem historischen Hintergrund des Jahres 1968, der deutschen APO, agierten. Wir hatten die kommunistische Opposition von Syganov schon satt und konnten sie selbstverständlich nicht ernst nehmen. Unter meinen neuen Bekannten, bereits außerhalb des Palais Jalta, waren Menschen, die sehr linksradikal eingestellt waren. Das waren Frankfurter Hausbesetzer, die man damals versuchte, für den Sprengstoffanschlag auf das Damstädter Gefängnis mitverantwortlich zu machen und vor Gericht zu stellen. Nachdem ich diese Menschen kennengelernt hatte, interessierte ich mich sehr für ihre Anliegen und der Kontakt wurde enger. Die ersten Jahre in Deutschland waren also ein mächtiger Impuls für mein Umdenken in Bezug auf viele Themen und insbesondere für das künstlerische Schaffen. Innerhalb weniger Jahre begannen wir, ein paar ziemlich harte, sozial engagierte Projekte durchzuführen.

-Wenn sich alles so erfolgreich entwickelte, warum haben Sie die Zusammenarbeit mit Palais Jalta dann aufgegeben?

-Kaum jemand war wirklich bereit, ernsthaft über die osteuropäische Kunst und Kultur zu sprechen, bevor die EU-Erweiterung begann. Man konnte Partnerschaften knüpfen, die vor allem die finanzielle Ausstattung bei der Veranstaltung von Ausstellungen sicherten. Es gibt ein Rezept für Ausstellungsveranstaltungen für diejenigen Galerien, die kein Geld haben: Lässt man einen Künstler aus Österreich kommen – fördert der Kulturkontakt; aus der Schweiz – bezahlt alles Pro Helvetia; aus Frankreich – wird das Institut Français zum Sponsor. Man konnte aus Jugoslawien interessante, wenn auch unbekannte Persönlichkeiten dazu einladen, da die Zuschüsse für die anderen Künstler die Kosten mit abdeckten. Trotz der Trickserei waren wir in unseren Möglichkeiten sehr eingeschränkt; dazu war ich auf dem Gebiet der deutschen Kulturpolitik zu unerfahren, und ich musste erst aus meinen Fehlern lernen.
Es gab Versuche, Ausstellungen im Dialog durchzuführen und auf zwei osteuropäische Künstler beispielsweise einen österreichischen einzuladen. Selbstverständlich bemühte ich mich als Russe besonders, die russische Kunst bekannter zu machen, zumal Russland sich damals allgemein keiner Beliebtheit erfreute. Die Arbeit erstreckte sich über zweieinhalb Jahre. Ich wurde radikaler und meine Projekte wurden schärfer, akuter, und stärker gesellschaftlich orientiert. Gleichzeitig und im Gegensatz dazu hatte das ganze Kollektiv im Palais an Energie verloren. Es wollte bequemere und konventionellere Projekte realisieren. Tatsächlich hatte keiner wirklich Sinn für Kunst und sie wurde generell schlecht aufgefasst. Die Resonanz in der Presse war zwar positiv, aber die Hauptaufgabe war schlicht, zu überleben. Die Institution richtete mein Vorhaben allmählich zugrunde. Als diskutiert wurde, den Ausstellungsraum gegen ein kleines “Zimmer” einzutauschen, in dem nur das Betreiben eines Projektbüros möglich gewesen wäre, war ich nicht einverstanden. Das hätte bedeutet, keinen eigenen Platz mehr für die Durchführung eines Projekts zur Verfügung zu haben. Den abslouten Tiefpunkt bildete schließlich das Misslingen eines Vorhabens, auf das ich meine letzte Hoffnung gesetzt hatte: Geplant war ein sehr großes und wichtiges Projekt unter dem Arbeitstitel “Ist russische Kunst möglich?”, das wir zusammen mit Boris Greus, mit dem ich damals sehr eng befreundet war, vorbereiteten. Es wurden viele, in Kunstkreisen bekannte Persönlichkeiten hinzugezogen, unter ihnen Jean Amman und Jürgen Harten. Ich hatte die Leitung des Palais Jalta von der Bedeutung des Projektes überzeugt. Die einzige Bedingung seitens Boris war, dass die erste Ausstellung seiner Frau Natalja, die sich von alten Familienaufnahmen inspirieren ließ, im Rahmen dieses Ereignisses mitorganisiert werden sollte. Das war an sich kein Problem. Ein Problem entstand erst bei der Fotoauswahl. Das Konzept der Ausstellung sah aus wie eine Art “Familienalbum von Boris Greus”. Mein Vorschlag, die Ausstellung mit Fotos von Persönlichkeiten der Petersburger Bohème wie zum Beispiel Timur (Novikov) oder Afrika (Vladimir Bugaev) irgendwie aufzulockern, wurde überhört. Zwei Wochen vor der geplanten Eröffnung rief mich Natalja an und blies das Ganze einfach ab. Boris sagte später, Natalja habe den Eindruck gehabt, ich hätte kein gebührendes Verständnis für ihre Kunst gezeigt, und für ihn sei seine Beziehung zu seiner Frau viel wichtiger als jedwede Verpflichtung, womit er eigentlich Recht hatte. Nach diesem Misserfolg konnte ich allerdings nicht mehr in Palais Jalta bleiben.

-Deutschland wurde ein Ausgangspunkt für Ihre linken Ansichten bezüglich der Funktion der zeitgenössischen Kunst für das Verständnis bestimmter Perioden der russischen Geschichte. Heute drückt sich dies in der Tätigkeit der von Ihnen gegründeten Arbeitsgruppe “Chto delat?”/“What is to be done?” aus, deren Forum eine gleichnamige Zeitung in russischer und englischer Sprache ist. Entstand die Konzeption der Gruppe und der Publikation noch in Deutschland?

- Ich würde über die letzten Jahre nicht sagen, dass ich nach Russland “zurückgekehrt bin”. Ich positioniere mich wie viele andere andere Künstler nicht als ein “ansässiger”, sondern als ein an mehreren Orten wohnender Mensch. Wir behalten unsere Wohnung in Berlin, in der jetzt von Zeit zu Zeit auch Auswanderer wie Avdej Ter-Oganjan oder Lena Kovylina wohnen und wo es für Radek oder Tolja Osmolovskij immer eine Bleibe gibt. Wenn ein Künstler ein bestimmtes Niveau erreicht, ist er nicht mehr an einen Ort gebunden. Ein Künstler hat mehrere Orte, zwischen denen er ständig wandert. In einer solchen Migrationssituation wurden die Zeitung und die Idee einer Arbeitsgruppe geboren. Für andere Mitglieder unserer Gruppe – Philosophen und Schriftsteller – wird jede Ausgabe der Zeitung zu einem Ort, an dem sie in einem unerwarteten Format und in ungewohnter Zusammenstellung präsentiert werden, und für mich ist die Zeitung so etwas wie der Gradmesser meines Kunstprojektes. Als Künstler und Grafiker setze ich mir das Ziel, einen Raum zu schaffen, in dem jeder Text nach Gesetzen existieren kann, die es ermöglichen, dass er mit den anderen Texten und mit der grafischen Gestaltung zusammen wirken kann. Diese Lebensform in Berlin und allgemein in Europa hat zu der heutigen Form der Zeitung beigetragen.

- Sind die in der Zeitung behandelten Probleme für den ausländischen Leser interessant und verständlich? Oder sind sie ausschließlich vor dem Hintergrund der russischen Situation von Bedeutung?

- Von Anfang an haben wir unsere Zeitung als eine Mikrogemeinschaft im Dialog mit der großen Welt positioniert. Wir haben dieses Projekt mit bestimmten Überzeugungen, auch in Bezug auf Kunst, angefangen, deshalb war dieser Dialog für uns selbstverständlich. Es geht in der Zeitung nie um ein “who is who”, das ist einer unserer Grundsätze. Damit beziehen wir uns auf Foucault in dem Sinne, dass man heute nicht einen Text, sondern die Einstellung eines Autors liest, die schon ursprünglich durch den Namen legitimiert ist. In vielem bleibt die Publikation eine Versuchsplattform. Alle Ausgaben sind bei uns absolut unterschiedlich konzipiert, trotzdem gibt es verbindende Elemente. Ich kann heute sagen, dass die Zeitung ein wichtiges und nötiges Projekt geworden ist. Wir haben eine seltsame Nische besetzt, und wir sind das einzige regelmäßig erscheinende Medium, mit Ausnahme von ideologisch-politischen Veröffentlichungen, das gleichzeitig in russischer und englischer Sprache erscheint und zwar, was sehr wichtig ist, gratis als take away medium. Jede Ausgabe hat einen thematischen Schwerpunkt und ist in vielem auf den konkreten Zusammenhang der Veröffentlichung bezogen. Wir bemühen uns, die Zeitung auf das Gegenwartsgeschehen abzustimmen. Aber es geht weniger um eine Darstellung dieses oder jenes Ereignisses, sondern um ein konsequentes und kritisches Nachdenken bezüglich bestimmter Situationen. So haben wir beispielsweise keine Kritik der Moskauer Biennale veröffentlicht, sondern eine kritische Perspektive auf die russischen Machthaber dargestellt: Themen waren die Zensur, die politische Situation in der Peripherie (der Ukraine), die Philosophie des Ausnahmezustandes, die neue Rolle Russlands in den internationalen Beziehungen, die Kritik neokonservativer Tendenzen. Wir waren praktisch die einzigen, die die Umstände der Biennale intellektuell anzugreifen versuchten.

- Hat die Gruppe “Was tun?” Kontakte mit Vertretern der politischen Gruppierungen der “linken” Bewegung in Russland und in Europa?

- Seit dem zweiten Europäischen Sozialforum in Paris verbreiten wir einige Exemplare unserer Zeitung auf diesem Forum. Sowohl im russischen als auch im internationalen Kontext haben wir Kontakte zu politischen Aktivisten. Aber ich würde diese Kontakte nicht als zentral bewerten, weil wir unsere Rolle vor allem auf dem Gebiet der Kultur sehen. Diese Einstellung entstand zu einer Zeit der gesellschaftlichen Enttäuschung. Ich beabsichtige nicht, eine populistische Zeitung zu machen, die breiten Massen zugänglich wird. Jeder muss die Verantwortung an der Front übernehmen, an der er kämpft, und sich natürlich soweit wie möglich mit weiteren Mitstreitern verbünden.

- Das heißt, Ihr Weg bleibt die Kunst. Doch – die Kunst im politischen oder die Politik im künstlerischen Kontext?

- Das ist ein altes Dilemma von Walter Benjamin: Ästhetisierung von Politik, Politisierung von Kunst. Ich denke nicht, dass diese Frage noch aktuell ist. Die erste Ausgabe, die namenlos erschien, war völlig der Politisierung von Kunst gewidmet. In Russland wird das nur schwer aufgenommen. Hört man das Wort “Politik”, so stellt man sich den Präsidenten Putin vor oder bestenfalls eine große Schlägerei der Abgeordneten in der Staatsduma. Nach der langen Periode des Sozialismus erwies sich die Politik als von den Menschen entfremdet. In der Tat müssen alle Bereiche unter politischen Aspekten betrachtet werden. Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Probleme gesellschaftliche Quellen haben und der Mensch vor allem ein politisches Tier ist, das seine Beziehungen über Gesellschaft und Macht aufbaut. Heute bin ich überzeugt, dass uns eine Reihe sozialer Umbrüche bevorsteht. Unsere Zeitung bereitet in gewissem Sinne darauf vor, dass in einem bestimmten Moment eine Entwicklung beginnen wird und wir eventuellen historischen Aufgaben gewachsen sein müssen, um sie nicht zu verpassen. In der neuen Ausgabe unserer Zeitung thematisieren wir Benjamins Definition der Katastrophe, denn sie kommt uns am nächsten. Die Katastrophe ist eine entgangene Möglichkeit. Wir möchten, dass Menschen das Riskieren lernen, indem sie sich ständig dem sozialen Experiment öffnen und die Welt nicht als etwas Unerschütterliches wahrnehmen.

- Eines Ihrer jüngsten Ausstellungsprojekte, das eine starke Resonanz bekam, hieß Drifting through incomplete renovation. An Urban Examination of Utopia and Everyday life at Narvskaja Zastava. Zum ersten Mal wurde hier im Kontext der modernen russischen Kunst die urbanistische Situation eines der symbolbeladensten und widersprüchlichsten Bezirke von Sankt Petersburg – die Narvskaja Zastava, die vor der Revolution Teil eines Arbeiterviertels am Stadtrand und dann Zentrum der Revolutionsbewegung war, untersucht. Außerdem ist dieser Bezirk reichlich mit Denkmälern aus der Ära des Konstruktivismus gesegnet, die man heute in anderem Licht sieht. In diesem Bezirk tritt mehr als in jedem anderen der ganze Komplex der gesellschaftlichen Probleme, die mit dem Übergang von der sozialistischen Gesellschaft zum Kapitalismus verbunden sind, zutage. Verfolgte diese Untersuchung irgendwelche praktischen Ziele, um das Leben der Menschen an diesem Ort zu beeinflussen?

-Das ist eine der grundlegenden Fragen: Inwieweit kann die Kunst Katalysator des sozialen Wandels werden? Mit dieser Frage plagen sich die Künstler seit der Zeit des kritischen Realismus. Die Kunst verfügt über ein bestimmtes Potential: Durch die Fokussierung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Bereich Veränderungen zu provozieren. Ich hoffe zum Beispiel, dass nach der Durchführung unseres Projektes in Russland mindestens noch 200 bis 300 junge Leute erscheinen, die ihrer Beziehung zum Konstruktivismus einen neuen Sinn geben. Ich bin vielleicht naiv, aber ich glaube, dass die Kunst ihre Mission hat und dass eine Möglichkeit besteht, mit Hilfe von Kunst etwas zu bewirken. Aber in Russland ist der Bereich der politischen Kunst momentan noch schwach entwickelt, er bleibt nach wie vor marginal, so wie übrigens auch die Aktivitäten kleiner Gruppen linker Funktionäre, die auch nicht über Mittel verfügen, um auf die gesellschaftliche Entwicklung einzuwirken. Ich würde sagen, unsere Tätigkeit als Künstler in diesem Bereich zieht sogar viel mehr öffentliches Interesse auf sich als unambitionierte politische Demonstrationen. Natürlich können dadurch manchmal lokale Probleme gelöst werden, wie zum Beispiel ein Grundstück vor Bebauung zu retten.

- Was ist der Unterschied zwischen der russischen und deutschen Kultursituation?

- Der Unterschied besteht darin, dass die Situation in Deutschland differenzierter ist. Es gibt viele Institutionen, sehr viele Künstler, kleine Organisationen. Es erfolgt ständig ein Austausch. Das System reproduziert sich ständig selbst. Es gibt mehrere Stufen im Kunstbetrieb. Dabei existiert eine reale Chance, von der niedrigsten Stufe nach oben vorzurücken. Gleichzeitig ist in Berlin die demokratische Ablehnung des Establishments sehr stark entwickelt, und viele Künstler beschäftigen sich mit Kunst wegen der Kunst, ohne nach Ruhm zu streben. Ich bin für die Ambition. Ich glaube, Geschichte vollzieht sich in dem Bereich der Verteidigung von Raum und eigenen Interessen.

- Ihre Hauptwaffe ist das Wort. In der Zeitung sind ständig Aufrufe zu sehen, Sie fördern verschiedene Wirkungs- und Denkprozesse. Kurz gesagt, Sie rufen zum Handeln auf. Gibt es Projekte, die auf in Folge Ihrer Artikel verwirklicht worden sind?

- Unsere Waffe ist nicht nur das Wort. So wurde beispielsweise das oben beschriebene Untersuchungsprojekt hinterher in einer Ausstellung ausgewertet. Wir haben einige Aktionen im öffentlichen Raum durchgeführt. Während des 300-jährigen Jubiläums von Sankt Petersburg zum Beispiel gingen wir mit Transparenten auf die Straße, auf denen stand “Wir verlassen die Stadt”. Es war so etwas wie ein Moment der Konsolidierung unserer Gemeinschaft. Wir begriffen, dass wir nicht mehr in der Welt des offiziellen Kunstbetriebs bleiben konnten. In der Ausgabe Emancipation from/of labour beschreiben wir unsere Aktion “Sandwitch-ed”. Mit Werbeschildern – sandwiches - behängt verteilten wir scheinbar leere Zeitungen an die Menschen. Erst auf der letzten Seite standen Fragen über das Wesen der Arbeit und ihrer Bedeutung in unserem Leben. Es waren provokante Fragen, die die Menschen anregen sollten, über ihre Einstellung zum Thema Arbeit nachzudenken.


- Sie sind also Provokateure?

- So würde ich das nicht sagen, ich mag das Wort “Provokation” nicht. Ich glaube, es ist ein bisschen verbraucht. Provokation kann zwar auch heutzutage funktionieren, wird aber allzu gerne von den Massenmedien nur für die Sensation eines kurzen Nervenkitzels benutzt. Die Ressourcen der ideologischen und ästhetischen Provokation sind von den Massenmedien und der Werbung völlig vereinnahmt. Deshalb lohnt es sich, aus ihrem Einflussbereich herauszutreten und etwas Neues zu schaffen, aber nicht als eine passive Autonomiezone, sondern als ein sich ausbreitendes Spannungsfeld, aus dessen Bereich die bestehenden Machtkonstellationen ständig in Frage gestellt werden. Ich bin überzeugt, dass der Kunstsektor in der Zukunft eine Chance hat, eine breite kritische Masse zu erreichen, sobald das bestehende System der kulturellen Produktion kollabiert. Denken Sie nur an eine Wirtschaftskrise, in welcher die Bourgoisie keine Kunst mehr kauft und keine Messen mehr besucht, weil sie Wichtigeres zu tun haben. Eine solche Situation würde für die meisten zeitgenössischen Künstler das Aus bedeuten. Uns dagegen würde ein solcher Umbruch eine Vielzahl an unbekannten und spannenden Möglichkeiten eröffnen, eine ähnliche Situation konnte man vor kurzem in Argentinien beobachten. Es bleibt natürlich die Frage, wie man die Möglichkeiten nutzt.




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