Zeitschrift Umělec 2010/2 >> In China mit JÉRÔME SANS Übersicht aller Ausgaben
In China mit JÉRÔME SANS
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2010, 2
6,50 EUR
7 USD
Die Printausgabe schicken an:
Abo bestellen

In China mit JÉRÔME SANS

Zeitschrift Umělec 2010/2

01.02.2010

Palo Fabuš, Ivan Mečl | China | en cs de ru

Chinesische Kunst gelangt schon seit den neunziger Jahren in westliche Galerien. Das läuft aber ausschließlich über institutionalisierte Kanäle oder mittels privater übernationaler Galeriekooperationen, und somit mit einer strengen und keinesfalls freien Auswahl, mit Namen, die sich ständig wiederholen und vor allem aus der Sicht westlicher Kuratoren ohne einen einzigen Funken Kraft und Spontaneität. Es ließe sich daher zu Recht erwarten, dass mit dem Arbeitsantritt des französischen Kurators Jérôme Sans in der chinesischen Kunstszene die gleichen Mängel drohen. Bei Sans handelt es sich allerdings nicht um den in China üblichen westlichen Hampelmann, der sich bequem in die Ateliers vorausgewählter Superkünstler hineinstecken lässt. Er bemüht sich im Gegenteil selbst darum, die fehlenden oder geradezu unpassenden Kapitel der gegenwärtigen chinesischen Kunst, wie zum Beispiel der neuen Welle der achtziger Jahre, von der vor allem der Westen nicht viel weiß, zu Ende zu schreiben. Er leitet die Galerie UCCA in Peking in den ganz eigenen Bedingungen der chinesischen imperialen Wiedergeburt als Fortsetzung des Projektes Palais de Tokyo durch Wege des Marktes, mit Unterstützung privater Quellen. Nun ließ er die Künstler selbst zu Wort kommen. Aus einer unlängst herausgegebenen Publikation von Gesprächen mit dreißig führenden chinesischen Gegenwartskünstlern wählen wir drei aus, die uns besonders beeindruckt haben und die wir um ein kurzes Interview mit ihrem Beichtvater ergänzt haben.
Falls sich zwischen den Zeilen der meisten Gespräche mit den Künstlern bestimmte Botschaften wiederholen, so ist das einerseits in vielen Fällen das Eingeständnis des Einflusses von Andy Warhol auf ihr Denken über ihr eigenes Schaffen und andererseits – was gänzlich nachvollziehbar ist –die Reflexion der historischen Veränderungen in den letzten dreißig Jahren auf persönlicher und kollektiver Ebene. Die ausgewählten Gespräche ragen aus dem Rest der Publikation zum einen durch ihre eindringliche Aufrichtigkeit und zum anderen dadurch heraus, wie sie mit persönlichen Details umgehen, die kein so klares Licht auf die kollektive chinesische Erfahrung in Form sogenannter „unbekannter Selbstverständlichkeiten“ werfen.


Aus dem Tschechischen von Michael Kniehl.


Umělec: Gab es in Ihren Gesprächen eine Reaktion, mit der Sie nicht gerechnet hätten?
Jerome Sans: Die meisten Reaktionen überraschten mich völlig. Deshalb habe ich dieses Buch gemacht und viele beeindruckende Menschen kennen gelernt. Aber Zhou Tiehai hat mich am meisten überrascht. Er spielte mit mir und gab niemals konkrete Antworten auf meine Fragen. Aber so ist er. Er führt dich immer auf unbekanntes Terrain.

U: Gab es auch schwierige Momente in den Gesprächen?
JS: Im Gegenteil, ich hatte mit jedem eine sehr schöne Zeit. Derzeit arbeiten wir mit fast allen ihre Interviews aus, damit diese dann einzeln veröffentlicht werden können.

U: Haben Sie schon Reaktionen von westlichen Lesern bekommen? Sind sie überrascht davon, wie chinesische Künstler denken und die Dinge sehen?
JS: Die Reaktionen auf dieses Buch waren großartig. Zum einen haben sich die Künstler sehr über ihre Interviews gefreut. Auf der anderen Seite gab es ein sehr positives Feedback von den Lesern und dem Herausgeber. Normalerweise verkaufen sich in China Bücher mit Interviews oder Texten von Künstlern nicht. Aber die chinesische Ausgabe meines Buches war innerhalb weniger Monate vergriffen. Wir sind inzwischen bei der dritten Auflage … Und die westlichen Leser zeigten großes Interesse an den Künstlern, von denen sie zum ersten Mal hörten. Einige kauften gleich mehrere Exemplare, um sie Freunden zu schenken.

U: Die Werke vieler der interviewten Künstler zeugen vom Erbe Andy Warhols und der westlichen Kunst per se. Was bliebe von der chinesischen zeitgenössischen Kunst, wenn man den Einfluss des Westens abzöge?
JS: Die meisten von ihnen kannten Andy Warhol gar nicht und hatten nie die Möglichkeit, irgend eines seiner Werke wirklich zu sehen. Wenn wir also den Einfluss der westlichen Kunst aus ihren Werken substrahieren würden, gäbe es keinen Unterschied.

U: Was konnten Sie über die Künstler erfahren, ohne dass sie es erzählt haben? (Was konnten Sie zwischen den Zeilen ihrer Antworten lesen?)
JS: Da gab es unglaubliche Geschichten und die unterschiedlichsten Einstellungen und Reaktionen. Zwischen den Zeilen fühlte ich mich als Zeuge einer Wiedergeburt, eines Momentes, von dem ich wusste, dass ich ihn so nie wieder erleben würde.

U: Wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand der chinesischen Kunst und Kultur? Erwarten Sie Veränderungen, das Entstehen neuer und Verschwinden anderer Richtungen?
JS: In China gibt es eine außergewöhnlich pulsierende und dynamische zeitgenössische Kunstszene. Ich habe den Eindruck, hier noch einmal das zu erleben, was im New York oder London der frühen 80er Jahre geschah. China befindet sich aber noch in den Kinderschuhen. Es steht gerade erst auf.

U: Glauben Sie, vor dem Hintergrund der Arbeit, die Sie geleistet haben, um die chinesische Kunst dem Westen nahe zu bringen, dass der Großteil der westlichen Intellektuellen und Kuratoren die moderne Kunst Chinas immer noch als abgekoppeltes Fragment, als einen funkensprühenden Hype betrachtet? Und kann man dies darauf zurück führen, dass es wenig aufschlussreiche Literatur im Westen darüber gibt?
JS: Wie soll man die Vielschichtigkeit und faszinierende Natur fremder Kulturen und Sichtweisen verstehen, wenn man nicht in sie eintaucht?

U: Wie war es für Sie, in China zu arbeiten? Welche Erfahrungen konnten Sie machen und mit welchen Problemen sahen Sie sich konfrontiert?
JS: Eine kulturelle Institution in Peking zusammen mit dem Ullens Center for Contemporary Art zu errichten, wie beispielsweise im Pariser Palais de Tokyo, ist immer ein Unternehmen voller Heraus-
forderungen …

U: Wenn man die Art von Kunstkritik betrachtet, wie sie in der westlichen Welt üblich ist, kann es schwierig sein, innerhalb der chinesischen Kunsttheorie eine kritische Position einzunehmen. Wie empfanden Sie Kritik und intellektuellen Diskurs in der chinesischen Szene?
JS: Die Barrieren zwischen unseren Spra-
chen und der Kultur sind gewaltig … Die Geschichte der chinesischen Philosophie und des Denkens ist unermesslich.

U: Liege ich richtig mit meinem Ein-
druck, dass die Mehrheit der chinesischen Künstler eher in gegenseitiger Solidarität arbeitet, als sich auf öffentliche Debatten über die individuelle Verschiedenheit der Arbeit eines jeden zu versteigen?
JS: Da liegen Sie richtig.

U: Es gibt viele Beispiele von Menschen aus dem Westen, die in China in richtigen kulturellen Blasen leben, sozusagen theoretisch und mental vollkommen abgeschieden vom wirklichen Leben. Wie verbrachten Sie Ihre Zeit dort?
JS: Ich separiere mich niemals von dem, was um mich herum geschieht. In China habe ich jeden Tag mit chinesischen Künstlern und Leuten aus der Kunstszene zu tun gehabt.




Song Dong // Spielarten des Lebens

Jerome Sans (JS): Wie wurde aus Ihnen ein Künstler? Ich habe gelesen, dass Sie sich als Kind weigerten, in den Kindergarten zu gehen.
Song Dong (SD): Das stimmt. Ich wollte nicht in den Kindergarten, also sperrte mich meine Mutter zuhause ein. Das hört sich vielleicht so an, als wäre ich dadurch meiner Freiheit beraubt worden, tatsächlich war ich geistig und gedanklich jedoch sehr frei. Ich konnte selbst darüber entscheiden, wie ich meine Zeit verbringen wollte. Ich konnte malen oder einfach machen, wozu ich gerade Lust hatte. Ich genoss dieses Leben.

JS: Was malten Sie damals?
SD: Ich malte Dinge aus Büchern und Zeitungen ab: Tiere, Bäume.

. . . . . .


JS: Mit sieben kamen Sie in die Schule und im Alter von elf oder zwölf Jahren begannen Sie mit traditionellem Kunstunterricht. Was kam damals dabei heraus?
SD: Ich malte schon immer sehr gern und meinem subjektiven Eindruck nach. Auch im Vergleich zu Gleichaltrigen war ich ziemlich gut. 1977 begann ich dann eine spezialisiertere Ausbildung im Youth Palace im Xicheng-Stadtteil in Peking. Aber dort wurde nach altem sowjetischen akademischen Stil gelehrt. Wir malten lediglich Dinge aus dem Leben und arbeiteten an Zeichnungen. Oft gingen wir zum Beispiel zum Bahnhof, auf den Gemüsemarkt oder in den Park.

JS: Danach gingen Sie an die Capital Normal University, wo sie 1989 Ihr Studium abschlossen. Von diesem Zeitpunkt an bis zum Jahr 1994 haben Sie viel gemalt. Wie arbeiteten Sie damals?
SD: Meine Arbeiten waren damals alle noch figurativ. Dennoch war da immer ein Ansatz eines imaginären Raums. In den meisten davon geht es um einen Fantasieplatz, der weit entfernt von unserer Erde liegt. Diese Arbeiten schienen irgendwie ohne Verbindung zur realen Welt zu sein, so als ob sie zu einer anderen Welt gehörten. Nach 1989 wollte ich mich dann noch weiter von der Realität entfernen und meinen eigenen geistigen Garten zu Bild bringen. Und noch später begann ich mit einigen konzeptuellen Arbeiten.

. . . . . .


JS: Sie gelten als einer der ersten Konzeptkünstler Chinas. Was bedeutet das für Sie?
SD: Wer sagt so was denn? Viele Leute vor mir haben schon konzeptuelle Arbeiten gemacht. Ich könnte gar nicht sagen, wer der erste war. Aber das ist unwichtig. Ich denke, Kunst muss immer synchron einhergehen mit den Gedanken. Und vermutlich ist es eine schwierigere Aufgabe auszudrücken, was und wie ein Künstler denkt, als die bestimmte Arbeit dann auf die eine oder andere Weise auszugestalten.

JS: Wie würden Sie Ihr Werk beschreiben? Immerhin zeigt es viele verschiedene Seiten, angefangen von Performancekunst über Fotografie bis hin zu Projektionen und Installationen.

SD: Ich bin nicht der Typ Künstler, der die von Ihnen aufgezählten Begriffe zur Beschreibung meiner Arbeit verwenden würde. Wenn ich also ein Wort benutzen müsste, würde ich sagen, ich bin ein „Medium-agnostischer Künstler“, denn meiner Meinung nach ist Leben Kunst und Kunst ist Leben. Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen den beiden. Leben kann man auch nicht auf einen bestimmten Stil beschränken, und genauso wenig funktioniert das bei Kunst.

. . . . . .


JS: Ich habe eine Performance von Ihnen in Erinnerung, bei der Sie direkt auf den Boden schrieben.
SD: Alles ist vergänglich, die Welt ist vergänglich, unser Planet ist vergänglich. Ich mag diese Methode, einfach Zeit verstreichen zu lassen. Der Prozess ist dabei wichtiger als das Ergebnis.

JS: Es ist eine Geste, selbst wenn nichts dabei herauskommt. Es ist sozusagen anti-archivarisch.
SD: Tatsächlich ist es so, dass diese und andere ähnliche Arbeiten häufig durch Fotos dokumentiert werden, was den Eindruck vermittelt, dass etwas zurückbleibt. Ein Nachweis über den verstrichenen Augenblick, obwohl die Sache an sich bereits verschwunden ist. Dieser Stempel hier ist mit dem chinesischen Schriftzeichen für „Wasser“ versehen. Wenn ich damit die Wasseroberfläche berühre, wird das Symbol für „Wasser“ auf sie übertragen, wenn ich den Stempel hochhebe, ist es verschwunden. Und trotzdem hat es einmal existiert, so wie auch die kalligrafischen Zeichen, die ich auf Wasser schreibe.

JS: Eine Ästhetik des Verschwindens.
SD: Für mich sind Dasein und Verschwinden ein und dasselbe. Gerade jetzt denke ich zum Beispiel, dass wir im Wasser sind, Sie hingegen denken das nicht. Da ist Wasser in der Luft. Es ist extrem feucht. Also ist da auf jeden Fall Wasser vorhanden, aber es befindet sich in einem anderen Zustand und deshalb haben Sie nicht den Eindruck, dass wir uns im Wasser befinden. Ihr Verständnis von Wasser verbietet die Vorstellung, dass wir jetzt gerade im Wasser sind. Dabei befinden wir uns in einem anderen Zustand von Wasser. Kurz gesagt: Nichtvorhandensein und Vorhandensein ist das Gleiche, das Allerwichtigste ist die Wahrnehmung.

JS: Das Interessante an Ihnen ist für mich, dass Sie das Gegenteil Ihrer zeitgenössischen Künstlerkollegen sind, die in sehr spektakuläre Arbeitsweisen eingebunden sind. Die meisten der zeitgenössischen chinesischen Künstler und Künstlerinnen Ihrer Generation produzieren spektakuläre Arbeiten, Sie hingegen sind das Gegenteil. Es ist eine Art Widerstand gegen die Gewalt unserer Welt.
SD: Die Welt ist mannigfaltig und kompliziert. Wenn sich alle in die gleiche Richtung bewegen, heißt das noch lange nicht, dass es die korrekte Richtung ist. Schließlich gibt es immer mehr als eine Möglichkeit. Aus einer anderen Perspektive gesehen ist die Welt immer voller Phänomene, die wir nicht bemerken, voller Dinge, denen wir keine Beachtung schenken, die aber nicht weniger „groß“ oder wichtig sind, als diese anderen prominenten Geschehnisse. Es sind die größten unter allen Dingen, die keine Form haben.

JS: In vielen Texten über Sie liest man immer wieder das Wort „Meditation“. Haben Sie tatsächlich Interesse an dieser zitierten meditativen Haltung? Beschäftigen Sie sich damit?
SD: Meditation ist eine Form von Zen, ein Weg für Menschen, ihren Geist zu reinigen. Ich bin kein Buddhist, aber ich mag gewisse Methoden aus der Zen-Lehre, weil es dabei nicht erforderlich ist, stillzusitzen oder Figuren zu schnitzen. Man kann alles Mögliche machen, und jedes dieser Dinge kann Erleuchtung in sich tragen. Erleuchtung bedeutet einfach nur die Welt, in der wir leben. Aber natürlich ist es alles andere als einfach, Erleuchtung zu erreichen. Wer kann das schon von sich behaupten? Selbst, wenn man sie einmal erreicht hat, kann sie einem später wieder abhanden kommen. Das Leben ist ein Prozess, in dem es darum geht, die Welt verstehen zu lernen, das eigene Bewusstsein zu erweitern, zu denken, Verwirrung zu erleben, zu reflektieren, zu zweifeln und dann alles wieder aufs Neue zu überdenken. Die Leute schenken den kleinen Dingen keine Beachtung, vor allem jenen nicht, die nicht so leicht zu entdecken oder erkennen sind. In den letzten Monaten habe ich einige Arbeiten zu diesem Aspekt gemacht, zum Beispiel habe ich eine Wand mit Sahne bemalt. Dabei wird einem erst bewusst, wie diese so oft übersehenen Dinge kaum zu existieren scheinen, aber auch, wie man ihnen dann fast zu viel Aufmerksamkeit beimisst, sobald sie sichtbar sind. Mein Interesse liegt eher darin, Wege zu Gedanken zu schaffen. Für mich ist das Denken das Allerwichtigste.

JS: Darüber hinaus arbeiten Sie üblicherweise auch mit lebenden Materialien, mit Dingen aus der Natur.
SD: Meiner Ansicht nach ist Kunst Leben. So viel von meiner Inspiration kommt vom Leben selbst. Und ich lebe in der Kunst. Aber vielleicht hat das teilweise auch mit der chinesischen Vorstellung des Eins-Seins mit der Natur zu tun. Beeinflusst haben mich vielleicht auch die Umstände in meiner Kindheit oder meine Erziehung. Ich mag diese Idee der Einheit zwischen Mensch und Natur.

JS: Aber wenn Sie die ganze Zeit über schreiben, was ist da genau die Verbindung zur Performance?
SD: Das Leben ist ein Ritual. Das Leben von Anfang bis Ende ist ein lebenslanges Ritual. Wir wachen auf, putzen uns die Zähne, waschen unser Gesicht, alles aus Gewohnheit. Diese Dinge fühlen sich gar nicht mehr unnatürlich an. Rituale nimmt man üblicherweise als gezwungene, formalisierte Elemente im Leben wahr. Die Aufgabe eines Künstlers ist, neue Ausdrucksformen zu schaffen. Und einige Dinge sind am besten durch rituellen Ausdruck erklärbar und vermittelbar.

. . . . . .


JS: In früheren Arbeiten haben Sie die Hutongs (die für Peking typischen alten, engen Gassen und Wohnviertel) mit Fotos und Videoaufnahmen archivarisch dokumentiert, immer unter Verwendung des gleichen Motivs. Was sind Ihre Gründe für diese Arbeitsweise?
SD: Mich interessieren Objekte und Wissen, die in Vergessenheit geraten sind oder übersehen werden. Heutzutage sind alle so interessiert an der so genannten sichtbaren Entwicklung, an Projekten wie dem CCTV-Gebäude oder dem „Vogelnest“, und ich glaube, das sind zentrale Schauplätze. Die Menschen übersehen die gewöhnliche Bevölkerung. Sie haben ihre Lebens-
philosophie. Sie wollen ein gutes Leben haben. Sie fragen sich genauso, wie sie unter den gegebenen Bedingungen gut leben können. Was für eine Art von Weisheit bringen diese Menschen bei der Lösung dieser Aufgabe ein?

JS: In Ihrem Studio sah ich letztes Mal ein Werk mit einer Mauer aus einem Hutong, einem Bett und einem Baum.
SD: Das Werk thematisiert eine Frage, die sowohl den privaten als auch den öffentlichen Raum betrifft. Es geht um die Frage, wie arme Menschen ihr Wissen und ihre Erfahrungen verwenden – ich benutze dafür das Wort „Weisheit“. Aber die Idee beinhaltet auch die Aspekte der Schwierigkeiten und der Hilflosigkeit. Es geht darum, wie diese Menschen, ausgehend von den winzigen Räumen, die ihnen zur Verfügung stehen, dazu übergehen, den öffentlichen Raum einzunehmen und abzunutzen. In dieser Arbeit ist der Raum zur Gänze durch Türen ausgestaltet, die aus verschiedenen Häusern zusammengesammelt wurden und miteinander kombiniert eine neue Wand bilden. Wenn sie alle offen sind, wird der Raum zu einer öffentlichen Fläche. Sobald sie jedoch geschlossen sind, verwandelt sich die Fläche zurück in einen privaten Raum. In der Mitte des Ortes steht ein Bett, aus dem wiederum ein Baum wächst. Dieses Bild rührt von meinem viele Jahrzehnte langen Leben in den Hutongs und meinen Recherchen über das Leben dort. Historisch gesehen lebte lediglich eine Familie in jedem Hofhaus, aber nach 1949 kamen üblicherweise mehrere Familien auf ein und denselben Hof. Daraus entstanden dann die so genannten dazayuan. Wörtlich übersetzt heißt das soviel wie „großer, vielschichtiger Hof“. Es handelt sich dabei um einen Wohnhof, in dem zahlreiche Familien Unterkunft finden. Zeitweise wohnten bis zu zwanzig Familien in einem einzigen Hof. Und um sich mehr Platz zu schaffen, nahmen sie einfach kontinuierlich mehr und mehr öffentlichen Raum in Anspruch. Diese Menschen ließen sich immer wieder neue Dinge einfallen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Es gab da eine berühmte Fernsehserie, The Happy Life of Chatterbox Zhang Damin, in der es genau darum ging. Da wurden Geschichten aus dem alltäglichen normalen Leben erzählt. Keiner unter den Leuten hat das Recht, den Baum zu fällen, denn der hat den Raum schon besetzt. Andererseits sind auch die restlichen öffentlichen Flächen schon eingenommen, so bleibt nur der Platz dieses Baumes übrig. Wenn es also keinen anderen Ort zum Leben mehr gibt, was soll man da machen? Die einzige Möglichkeit besteht darin, den Baum einfach durch das Bett durchwachsen zu lassen. Für einen armen Bewohner ist das eine Zwangslösung, aber sobald sie umgesetzt ist, entsteht dadurch ein neuer Lebensraum und die Person ist für sich glücklich und erfreut sich daran. Ich habe ein merkwürdiges und seltsames Gefühl dabei, die Weisheit der Menschen, die in Armut leben, dazu zu verwenden, Kunstwerke zu erschaffen. Wir leben in einer Welt, die regelrecht für uns geschaffen wurde, wohingegen diese Menschen ihr eigenes Wissen benutzt haben, um sich eine gänzlich andere Lebensweise zu schaffen. Deshalb leben sie meiner Vorstellung nach an einem wunderbaren Ort.

JS: Es handelt sich bei Ihrem Werk also nicht um eine Kritik, sondern ein Statement zu Hyper-Armut und Hyper-Wohlstand im heutigen China?
SD: In China gibt es im weitesten Sinne gar keine tatsächlich wohlhabenden Leute, denn fast jeder hat irgendwann, an irgendeinem Punkt in seinem Leben, die Erfahrung gemacht, in Armut zu leben. In den dreißig Jahren der Reform und Öffnung wurde zwar Wohlstand geschaffen, gleichzeitig entstand aber auch eine Kluft zwischen Arm und Reich. Noch heute haben die meisten Leute nur eine unvollständige Vorstellung von Wohlstand. Diese zwei Klassen, die Reichen einerseits und die Armen andererseits, tun sich schwer dabei, die Lebenswelten der jeweils anderen zu verstehen, und dieser Zustand schafft einen riesengroßen sozialen Widerspruch. Mich hat es immer schon interessiert, wie Menschen in Armut sich Raum aneignen, wie sie begrenzten Platz als Stauraum und Lager nutzen, wie beispielsweise meine Mutter, die es kaum ertragen konnte, Dinge wegzuwerfen. Woher kommt das alles? Machen sie das um der Erinnerung willen, oder der Zukunft halber, oder weil sie einfach so arm sind, dass sie einen Weg finden müssen, Raum zu füllen und Habseligkeiten zu horten? Alle diese Praktiken spiegeln die Denkweise und Philosophie der jeweiligen sozialen Schicht wider. Reiche Leute können ihr Geld dafür verwenden, alles zu kaufen, was sie wollen, solange es sich um nichts Verbotenes handelt. Arme Leute hingegen warten möglicherweise ihr ganzes Leben vergeblich darauf, den von ihnen ersehnten Raum zu besitzen. Und nichtsdestotrotz verlieren sie nie diesen Drang danach, sich das Leben nur ein klein wenig komfortabler zu gestalten, nur ein bisschen mehr Platz zu haben. In welcher Art und Weise beziehen sie den öffentlichen Raum? Wie gehen sie mit den staatlichen Verordnungen, um oder wie verhandeln sie auch die Beziehungsspielräume zu den Nachbarn? Schlussendlich entstehen diese Konstruktionen nicht aus irgendeinem kreativen Schaffenswunsch heraus, sondern sind vielmehr bedingt durch eine grausame Realität und eine Vielzahl externer Faktoren.

JS: Sie zeigen uns auch, wie alle diese Menschen in den Hutongs neue Räume auf den Hausdächern erfinden.
SD: Ich habe tatsächlich eine andere Arbeit im gleichen Stil mit dem Titel Living with Pigeons. Darin geht es darum, wie Menschen mit dem Recht der Tiere, Raum zu besetzen, arbeiten, um das gleiche Recht für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Normalerweise ist es nicht erlaubt, auf den Hausdächern zu wohnen, und weder Nachbarn noch die Regierung sind gewillt, eine Bebauung der Dächer zuzulassen. Tauben hingegen haben das Recht, auf dem Dach zu leben. Wenn also eine Person einen Mitgliedsausweis für den Taubenzüchterverein hat und somit die Erlaubnis, Tauben zu halten, dann kann sie auch einen Taubenkäfig auf ihrem Dach anbringen. Haben sich die Nachbarn erst einmal daran gewöhnt, so kann man, nach einem Jahr oder so, ein paar alte Türen oder Fenster an den Käfig anbringen, um ihn vor Wind und Regen zu schützen. Nach einer Weile kann man dann auch beginnen, Dinge dort zu verstauen. Der Taubenverschlag wird immer erweitert und wächst, so geht das manchmal über ein Jahrzehnt hinweg oder länger. Wenn man dann das Glück hat, in ein staatliches Stadterneuerungsprogramm zu fallen (wie es sie zum Beispiel gerade jetzt vor den Olympischen Spielen gab), dann werden die vielleicht entscheiden, dein Haus zu renovieren. Aufgrund dieser Geschichte mit dem „zweiten Stock“ kann es dann sein, dass während der Bauarbeiten der „Taubenverschlag“ in eine offiziell genehmigte Fläche umgewandelt wird. Auf diese Art und Weise haben sich die Bewohner also der Rechte der Tauben bedient, um ihre eigenen Rechte auszubauen und zu stärken.




Zeng Fanzhi //// Die menschliche Natur


Jerome Sans: Wann haben Sie mit der Malerei begonnen?
Zeng Fanzhi (ZFZ): Herumzuprobieren begann ich ungefähr im Alter von acht oder neun Jahren. Mit fünfzehn oder sechzehn begann ich eine systematische und offizielle Ausbildung in Malerei und Farbenlehre, um später für die Kunstakademie zugelassen zu werden. Im Jahr 1987 begann ich an der Universität Ölmalerei zu studieren.

JS: Welche Art von Kunst haben Sie während Ihrer Ausbildung und kurz danach gemacht?
ZFZ: Ich glaube, meine erste richtige Arbeit stammt aus dem Jahr 1989 und ist ein realistisch gemaltes Bild einer Person. Das Modell, ein Mann, hatte ich schon eine ganze Weile lang unter Beobachtung, als ich die Entscheidung traf, das Bild zu malen. Ich versuchte, ihn dazu zu überreden, für mich Modell zu stehen und erzählte ihm, dass ich ihn eben malen wolle. Er stimmte zu und ich begann. Am Anfang war ich ziemlich aufgeregt, wenn nicht sogar aufgewühlt. Ich sah, dass das meine erst gute Arbeit war, denn ich fühlte, dass ich in ihr Linien dazu benutzen konnte, um meine Gefühle auszudrücken.

JS: War das der Grund, warum Ihre ersten Serien in einem Krankenhaus handelten? Weil ein Krankenhaus ein Ort mit Schmerz, Emotionen und Körpern ist?
ZFZ: Möglicherweise, ja. Ich habe die Krankenhaus-Serien 1991 gemalt, die gerade erwähnte erste Arbeit war aber aus dem Jahr 1988 oder 1989.

JS: Warum begannen Sie, sich mit der Krankenhaus-Thematik zu beschäftigen?
ZFZ: Damals war ich noch an der Hochschule, und mein künstlerisches Schaffen wurde von den Vorgaben der Lehrpläne bestimmt. Zu jener Zeit war an chinesischen Kunsthochschulen die Idee verbreitet, man müsse aufs Land gehen, um das „richtige Leben“ zu erfahren und Kunst daraus zu machen. Wir sollten für kurze Aufenthalte an Orte gehen, wo Minderheiten lebten, aufs Land, in kleine Dörfer, um die lokale Bevölkerung dort zu malen. Ich hasste das, ich hasste es, Schafe und Schafherden zu malen. Für mich war das langweilig. Ich wollte Dinge aus meinem eigenen Leben malen. Ich verstand nicht, warum es nötig sein sollte, aufs Land zu fahren, um die „Erfahrung des Lebens“ zu spüren. Ich erfuhr mein Leben jeden Tag einfach so, wie es war. Deshalb entschied ich, die Dinge um mich herum zu malen, die Dinge, die ich Tag für Tag sah und erlebte, die Dinge, die mich bewegten und Gefühle in mir auslösten.

JS: Krankenhäuser sind Orte, an denen einem die Verbindung zwischen Leben und Tod sehr eindrücklich vor die Nase gehalten wird. Leben bedeutet auch Tod, und Tod hat zugleich mit Leben zu tun.
ZFZ: Das stimmt, da haben Sie vollkommen Recht.

JS: Wie kam es also, dass Sie in Krankenhäusern malten?
ZFZ: Ich musste damals mehr oder weniger jeden Tag in Krankenhäuser gehen.

JS: Warum?
ZFZ: Ich wohnte gleich neben einem Krankenhaus und bei mir zuhause gab es keine Toilette. Wenn ich also auf die Toilette wollte, musste ich ins Krankenhaus gehen. In den achtziger Jahren war es nicht so wie heute. Es war außergewöhnlich, eine eigene Toilette im Haus zu haben, und tatsächlich hatten wir auch gar keine Schlafzimmer. Ich musste also andauernd ins Krankenhaus. Die Leute dort inspirierten mich. Sie brannten sich in mein Gehirn und so hatte ich keine Möglichkeit, ihnen weiter aus dem Weg zu gehen. Also fing ich an, sie zu malen.

JS: Die Ärzte auf Ihren Bildern sehen grimmig aus, gar nicht freundlich. Fast so, als ob sie sich in einem Gefängnis befänden und Leute foltern würden. Wenn ich nicht wüsste, dass es sich um ein Krankenhaus handelt, könnten diese Bilder meinem Gefühl nach auch Szenen aus einem Gefängnis darstellen. Sie sind wie eine Art Spiegel, bei dem man nicht weiß, ob man Patienten sieht oder Soldaten oder Insassen eines Konzentrationslagers. Die Bilder haben etwas Gefährliches und Wildes.
ZFZ: Viele der Personen in diesen Bildern stammen eigentlich nicht aus dem Krankenhaus. Einige sind Freunde von mir oder Nachbarn oder andere gute Bekannte. Dennoch waren Krankenhäuser zur damaligen Zeit wirklich ziemlich gruselig, die Leute lagen überall herum und warteten auf die Erlösung. Die Szenen erinnerten einen wirklich an gemalte Bilder. So war auch die Situation im Krankenhaus von Wuhan: Herumliegende Leute und die Ärzte neben ihnen. Die medizinische Behandlung der Menschen erfolgte unter genau solchen Bedingungen, so etwas wie saubere Krankenhäuser in gutem Zustand gab es damals nicht. Die Arbeiten sind sehr treue Abbilder meiner damaligen realen Umgebung.

JS: Die Menschen sehen ängstlich und verstört aus.
ZFZ: Genauso erschrocken war ich auch. Ich mochte es, die Szenen zu beobachten, aber irgendwie machte es mich auch immer nervös. Vielleicht zeigen diese Bilder mein Gefühl beim Anblick des Gemalten. Aber natürlich verschwindet dieser Schrecken, wenn die Leute bis zu einem gewissen Punkt krank werden.

JS: Da gibt es Parallelen zu Ihren Arbeiten über Fleisch und Metzger, was die Brutalität betrifft.
ZFZ: Es ist so: Heute mögen diese Arbeiten vielleicht brutal wirken, aber zu jener Zeit war das die Umgebung, in der wir lebten. Es kam uns also alles sehr natürlich vor. So war unser Leben damals. Selbstverständlich sind wir heute zivilisierter und ich denke, Fleisch sollte nicht einfach so verkauft werden, sondern als Produkt verdeckt in einer Verpackung. Aber in den achtziger Jahren war es eben so, dass Fleisch als Fleisch verkauft wurde, geschlachtet vor deiner Nase. Die Tiere wurden getötet und die Kadaver gut sichtbar für alle dort am gleichen Ort platziert. In solch einer Umgebung lebten wir damals tatsächlich.

JS: Wie würden Sie den Übergang von den Hospital Series zu den Mask Series beschreiben? Die Augen sehen sich sehr ähnlich, und im Krankenhaus tragen die Leute doch einfach eine andere Art Maske.
ZFZ: Die Masken-Arbeiten begann ich, als ich aus Wuhan weggegangen war und 1993 nach Peking kam. Ich fand mich in einer neuen Umgebung wieder und malte damals weiter Krankenhäuser und Fleisch. Dennoch verlor ich irgendwann das Interesse daran, denn ich verband damit nicht mehr dieses Gefühl von Aufregung oder Dringlichkeit. Ich wurde sehr nervös und begann zu denken, dass meine Zeit vorüber war, dass ich nicht mehr wusste, was ich malen sollte, dass mein Talent verebbt war. Damals wurde sehr viel Wert auf natürliches Talent gelegt, und ich war der Meinung, meines verloren zu haben. So beschloss ich, meine Themen zu ändern und andere Sachen zu malen. Zwischen 1993 und 1994 wechselte ich ziemlich häufig zwischen verschiedenen Stilen. Dann porträtierte ich eines Tages einen Mann mit einer Maske, das passierte fast unbewusst. Es gibt kein Geheimnis in meinen Malereien, ich trage einfach nur Farbpigmente auf Leinwände auf. Als ich mit dem Werk fertig war, wurde mir bewusst, dass es meinem damaligen Gefühlszustand sehr nahe kam, denn ich war gerade in einer neuen Stadt angekommen. Alles um mich herum hatte sich verändert. Die Figur dieses Mannes war irgendwie mit diesem Gefühl verbunden. Täglich trieb ich mich in dieser neuen Umgebung herum, ich kannte niemanden, niemand kannte mich. Das war ein sehr seltsames Gefühl von Isolation. Der Mann mit der Maske löste Aufregung in mir aus, denn das Bild schien meine damaligen Gefühle auszudrücken. So malte ich noch so ein Bild und noch eines und noch eines und so entstand daraus eine Serie.

JS: War die Maske auch so etwas wie eine Metapher für das Versteckte, für die Rolle, die man damals in der Gesellschaft gezwungen war zu spielen?
ZFZ: Auf eine bestimmte Art und Weise ja. Die Menschen schienen damals ihr eigentliches Ich zu verbergen. China befand sich in einer Phase der ständigen Entwicklung. In den späten Achtzigern und frühen Neunzigern zum Beispiel gab es große Veränderungen darin, wie sich die Leute kleideten. Heute denken wir gar nicht mehr darüber nach. Aber damals war es tatsächlich noch üblich, Anzüge im Mao-Stil zu tragen. Als ich damals Bilder in der Zeitung oder im Fernsehen von Mitgliedern des Ständigen Ausschusses des Politbüros sah, die plötzlich westliche Anzüge trugen, war das eine große Überraschung. Allein schon dieses kleine Detail war erstaunlich. Dabei befand sich damals eigentlich ganz China in einem Veränderungsprozess. Davor konnten Führungskräfte nur Mao-Anzüge anziehen, aber plötzlich trug einer von ihnen einen westlichen Anzug und du wurdest dir bewusst, dass Veränderungen im Gange waren. So trat der Parteigeneralsekretär Hu Yaobang beispielsweise einmal in einem Anzug auf. Früher waren Anzüge und Krawatten Zeichen der Bourgeoisie. Viele der Veränderungen damals fanden lediglich auf externer Ebene statt. Innerlich waren die Leute noch immer die gleichen wie zuvor. Es war ein in sich widersprüchlicher Entwicklungsprozess.

JS: Das Innere blieb also gleich, während sich das Äußerliche veränderte.
ZFZ: Ja. Ich bin beispielsweise sehr introvertiert, im Umgang mit Dingen verberge ich mein wahres Ich häufig. Es ist eine Art von Dynamik. So ist die menschliche Natur nun mal.

JS: Es ist also die Metapher der Maske, die für ein aufgezwungenes gesellschaftliches Rollenbild steht, das man erfüllen muss. Es geht um eine gesellschaftliche Haltung, wobei das Gesellschaftliche die Funktion einer Maske inne hat, die das Innere einer Person hinter sich verbirgt.
ZFZ: Ja, und man durfte nicht lachen. Wenn man als Chinese früher in Kontakt mit Fremden oder Leuten aus dem Ausland kam, war es verboten zu lachen. Jetzt ist alles offener, die Leute zeigen klar, was sie machen und sie lachen, wann immer sie Lust dazu haben. Aber wissen Sie, in der Vergangenheit waren die Leute förmlicher, die hätten nicht gelacht. Heute sind die Dinge ganz anders als früher.

JS: Lachen Sie heute?
ZFZ: Ja, heute kann ich lachen. Aber wenn man früher mit anderen Leuten zusammen war, hätte man es nicht gewagt zu lachen oder auch nur zu lächeln. Wenn einem danach zumute war, musste man sich einfach dazu zwingen, den Mund geschlossen zu halten. Bekam man Geld von irgend jemandem und freute sich darüber, durfte man trotzdem nicht lachen, aus Angst aus herabwürdigenden Blicken.

. . . . . .


JS: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu der Kunst von Andy Warhol beschreiben? Es gibt ein Bild von Ihnen, auf dem Sie sich an seiner Seite porträtiert haben, und einige Ihrer Arbeiten strahlen dieses Gefühl chinesischer Pop-Art aus.
ZFZ: Damals, als diese Arbeiten entstanden, begann ich gerade, das westliche Kunstsystem und auch die Gründe für den Erfolg von Andy Warhol zu verstehen. Ich habe mich damals mit den verschiedenen Prozessen in seinem Schaffen auseinandergesetzt. Beim ersten Anblick waren Warhols Arbeiten für Maler wie mich immer total faszinierend, man fragte sich immer, wie er sie wohl gemalt hatte, es schien so kompliziert. Später merkten wir, wie einfach es eigentlich war, dass er lediglich ein bisschen Farbe auf die Leinwand schmierte und dann darauf malte, dass gar nicht das ganze Ding gemalt war. Als ich also mehr über Andy Warhol erfuhr, änderte sich mein Gefühl für ihn, zumal ich ihm weiterhin einen immensen Respekt entgegenbringe, weil er einen komplett neuen Weg bereiste, total entgegengesetzt zu jeglicher Tradition. Er war neu und erfolgreich und verdiente so viel Aufmerksamkeit.

. . . . . .


JS: Gewalt ist auch in Ihren berühmten übertriebenen Händen sichtbar.
ZFZ: Die Personen sitzen da und man sieht den Hintergrund. Meine Bilder sind nicht so. In meinen Arbeiten sieht man die Große Halle des Volkes im Hintergrund, mit wehenden roten Flaggen und goldenen Sternen. Das war die eigentliche Idee, nämlich auf die Brutalität des politischen Kampfes anzuspielen. Das habe ich mich letztendlich aber nicht getraut, denn in China lässt man Politisches besser aus seinen Arbeiten raus, sonst bekommt man nur Ärger.

JS: Die Hände sehen aus wie die Hände eines Mörders.
ZFZ: Ich liebe es, Hände zu malen, und manchmal, wenn ich Menschen male, versuche ich irgendwie auch die Hände der Person einzubinden. Ich glaube, Hände sagen auf besondere Weise etwas über die Persönlichkeit und Gefühle des Menschen aus, vor allem, weil ich in meinen Arbeiten ja den Gesichtsausdruck der dargestellten Personen vereinheitliche, indem ich sie hinter Masken verstecke. Anhand der Hände hoffe ich, gewisse Emotionen auszudrücken. Auch wenn ich die gesamte restliche Haut meines Modells verdecke, die Hände kann ich nicht verdecken, und so erscheint es mir das Beste, die Hände zu übertreiben, größer zu machen, ihnen mehr Dynamik zu geben. Das macht das Bild für mich interessanter.

JS: Also sind Hände die einzigen Elemente, an denen man Unterschiede erkennen kann. Sie erzählen eine Geschichte.
ZFZ: Ob du nun nervös bist oder glücklich oder was auch immer – all diese subtilen Dynamiken können durch deine Hände verraten werden.

. . . . . .


JS: Die Dinge haben sich verändert seit der Zeit, als Sie vor zwanzig Jahren ins benachbarte Krankenhaus auf die Toilette gehen mussten. Wo gehen Sie heute auf die Toilette? Hat sich Ihre Sicht auf die Dinge in der Zwischenzeit radikal verändert? Wo sich die Dinge doch in so kurzer Zeit so drastisch gewandelt haben.
ZFZ: Ich sehe durch all diese Veränderungen noch immer hindurch. Das ist, glaube ich, meine wichtigste Ressource. In meinen vierzig Lebensjahren durchlebte ich so viel. Anfangs hatte ich absolut nichts, nicht einen einzigen Penny, und heute kann ich mich so vieler Dinge erfreuen. Die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre in China war außergewöhnlich und jedes Jahrzehnt unterschiedlich. Das alles hat in sehr bedeutsamer Weise zu meiner Arbeit beigetragen, ich empfinde das als großes Glück. Glücklicher könnte ich heute nicht sein, ich kann diese Gabe also regelrecht anhäufen. Ich liebe es, Kunst zu erschaffen. Und was mich am glücklichsten daran macht, ist die Tatsache, dass ich die Möglichkeit habe, das weiterhin zu tun.

JS: Mit dieser letzten Frage wollte ich vor allem ein Lächeln am Ende dieses Interviews von Ihnen bekommen.
ZFZ: Ich habe, wenn ich spreche, immer schon sehr ernst gewirkt. Manchmal erzeugt das bei Leuten auch Druck. Wenn ich zum Beispiel mit Leuten über Preise oder Geld diskutiere, kann es passieren, dass ich gar nicht unglücklich bin mit der Summe, aber die Leute haben den Eindruck, mir wäre es zu niedrig. Dann geben sie noch was drauf und ich sage ihnen, dass ich es gar nicht so gemeint hatte, aber dann ist es meist schon zu spät ...




Zheng Guogo ////// Mein Imperium

Jerome Sans: Das Thema Ihrer Arbeiten ist die Jugendkultur.
Zheng Guogo (ZGG): Da komme ich her. Ich war damals jung, das war das Thema, das mich interessierte. Aber die Dinge ändern sich ständig, und so sind wir heute hier.

. . . . . .


JS: Was waren Ihre ersten Arbeiten?
ZGG: Die über meinen Lehrer. Ich hockte mit meinem Lehrer mitten auf der Straße.

JS: Warum machten Sie diese Arbeit über Ihren Lehrer? Üblicherweise tötet man seinen Lehrer, seinen Vater. Wie wurde das zum Thema für Sie?
ZGG: Ich betrachtete das damals gar nicht als eine Arbeit. Ich hockte einfach gerade nur mitten auf der Straße und fand das interessant. Deshalb rief ich nach der Kamera und wir machten dieses Foto.


JS: Ist das tatsächlich Ihr Lehrer?
ZGG: Nein, natürlich nicht. Mir ist dieser Typ einige Tage zuvor auf der Straße vor meinem Studio aufgefallen. Ich wollte wissen, wer er ist, und als ich es herausgefunden hatte, fand ich ihn total interessant. So entschied ich, das Foto zu machen. Als ich es dann entwickelt hatte, fand ich es toll.

JS: Warum nennen Sie ihn dann Ihren Lehrer?
ZGG: Er besitzt ein immenses Wissen, dass ich nie und nimmer haben werde. Er ist verrückt. Während er die Straße entlang läuft, schlägt er Purzelbäume. Sein Abendessen sucht er sich aus Müllresten zusammen und schmunzelt und lacht, während er sie isst. Ich dachte, er würde am nächsten Tag verschwinden, aber er war immer noch dort.

JS: Wer war er wirklich?
ZGG: Er ist ein Irrer mit einem sehr außergewöhnlichen Immunsystem. Er ist echt wahnsinnig, ich könnte niemals so sein wie er.

JS: Was war dann Ihr nächster Schritt?
ZGG: Eine Arbeit mit dem Titel Planting Geese. Das habe ich von meinem „Lehrer“ gelernt. Wenn man Gänse in den Boden „verpflanzt“, quaken sie. Es ist verrückt.

JS: Welche Absicht steckt dahinter?
ZGG: Damals hatte ich keine Ahnung, es zog mich einfach an. Ich hatte keine klare Intention. Ich wollte einfach etwas tun, was der Realität widersprach. Mir fiel mein Schullehrer ein, der mir beigebracht hatte, dass die Augen von Gänsen alles, was sie sehen, kleiner machen, während Kuhaugen alles größer sehen. Deshalb können kleine Kinder auch Kühe und Gänse hüten, denn weil letztere dich eben in verkleinerter Form sehen, haben sie keine Angst vor dir. Du kannst mit einem Auto auf eine Gans zufahren und sie glaubt weiter, du wärst winzig. Gänse sind also irgendwie furchtlos. Das kam von einem Physiklehrer. Ich mag diese Vorstellung der furchtlosen Gans.

. . . . . .


JS: In welcher Verbindung steht diese Arbeit mit den Gänsen zu der Fotoarbeit Lives of Yangjiang Youth, die Sie später gemacht haben?
ZGG: Die Verbindung ist schwer zu beschreiben. Die Kinder auf diesen Bildern verhalten sich auf alberne, beinahe kriminelle Weise. Sie machen Sachen, die andere Leute nicht wagen würden. Vielleicht könnte man sagen, dass das Eingraben der Gänse auch eine gewalttätige, brutale Sache war. Ich habe diese Arbeiten aber eigentlich nie in einem Zusammenhang verstanden. Bei mir ist es so, dass mich irgendetwas plötzlich interessiert und dann mache ich es einfach. Oder man könnte es auch so interpretieren, dass die Tatsache, Gänse einzugraben, so wie die auf den Fotos abgebildeten Handlungen, die Art von Dingen ist, bei denen sich deine Eltern Sorgen machen und möglicherweise fragen würden: „Was? Wie kannst du so etwas nur machen?“ Wahrscheinlich würden sie dich auch ausschimpfen. Junge Leute lieben es, Dinge zu tun, für die ihre Eltern kein Verständnis haben. Jugendkultur ist keine Mainstream-Kultur, weil die dominante Macht eben immer in den Händen der Eltern liegt.

. . . . . .


JS: Sind Sie glücklich mit Ihren Arbeiten, ich meine, verspüren Sie ein besonderes Gefühl für sie? Wie sehen Sie Ihre Werke?
ZGG: Ich mag meine Arbeit. Ich mag fast alles, was ich mache. Aber sie gehen in so viele unterschiedliche Richtungen. Können wir diese Frage also auslassen? Manchmal habe ich das Gefühl, als wären sie gar nicht meine eigenen Arbeiten, sondern vielmehr ein Teil von mir, eine veräußerlichte Darstellung meiner Gedanken und Handlungen. Ich habe Vertrauen in meine Arbeit, aber keine Ahnung, wie ich die Frage „Wie würden Sie Ihre Arbeiten beschreiben?“ beantworten soll. Simpel gesagt: Meine Arbeiten sind einfach Teil meines Lebens.

JS: So, wie Ihr Leben auch Teil Ihrer Arbeit ist.
ZGG: Ja, Kunst ist ein Teil meines Lebens. Ich habe oft das Gefühl, dass das, was ich mache, keine tatsächlichen „Werke“ sind. Es ist, als ob ich einfach nur leben würde, und manchmal passiert dann irgendetwas oder es gibt eine Ausstellung. Dann mache ich eine Arbeit rechtzeitig für dies und jenes fertig, als eine Art, die Zeit totzuschlagen. Ich könnte gar nicht weiterleben, wenn ich nichts zu tun hätte.

JS: Das hängt von Ihrer Vorstellung von Zeit ab.
ZGG: Das ist natürlich wahr. Müsste ich mich nicht damit beschäftigen, könnte ich die Zeit genau so gut einfach schlafend verbringen.

JS: Warum haben Sie sich also für die Kunst entschieden?
ZGG: Ich wurde da hineingezogen. Andere Leute haben für mich entschieden. Ich war eigentlich ganz zufrieden in Yangjiang. Ich hatte die Freiheit, mal das eine, mal das andere zu tun. Und dann plötzlich ...

. . . . . .


JS: Sie haben eine junge Gruppe von Kalligrafen gegründet, die Yangjiang-Gruppe, um gegen die vorherrschende Situation in der chinesischen Kalligrafie zu protestieren.
ZGG: Im Jahr 2001 habe ich Chen Zaiyan und Sun Qingin getroffen, sie sind Kalligrafen im traditionellen Sinn. Im Gespräch mit ihnen begann ich, die Lage der Kalligrafie in China zu verstehen. Da gibt es die Chinese Calligraphie Association, die Untergruppen in jeder Provinz, jeder Stadt und in jedem Dorf hat. Es ist schwierig, in den jeweiligen örtlichen Verband aufgenommen zu werden. Man muss an bestimmten offiziellen Ausstellungen teilnehmen. Wenn du vom Land in die Stadt kommst, kritisieren sie dich, sagen dir, was du richtig und was du falsch gemacht hast und erklären dir, was deine Fehler sind. Mir wurde dann aber bewusst, dass diese Beurteiler aus den Städten möglicherweise gar nicht die Expertise haben, die Kalligrafie aus den ländlichen Regionen korrekt zu bewerten. Jemand in einem kleinen Ort irgendwo in China kann ein unglaublich guter Kalligraf sein. Wenn ihm aber die nötigen Kontakte und Verbindungen fehlen und das Beurteilungskomitee seine Arbeiten nicht kennt, soll er dann deshalb zum Scheitern verurteilt sein? Als ich von dieser Situation Kenntnis erlangte, beschloss ich eben, eine Gruppe zu gründen mit der Überzeugung, dass Kalligrafie auch außerhalb der offiziellen Kalligrafie-Welt existiert.

JS: Was produzieren Sie als Gruppe?
ZGG: Unsere erste Ausstellung hatte den Titel Are you going to look at calligraphy or to take my blood pressure? Wir schreiben Dinge, die wir selbst gar nicht mehr entziffern können, wenn wir fertig sind. Unser Ziel ist es, alle zu Analphabeten zu machen, uns selbst inbegriffen. Wir machen Installationen zum Thema Kalligrafie, zum Beispiel lassen wir tausende Blätter Papier am Boden wie Wellen eines Ozeans schaukeln, solche Sachen.

. . . . . .


JS: Was war die Idee dahinter? Ihr eigenes Imperium zu schaffen? Es erinnert an Teenagerzeiten, in denen man seinen Eltern den Zugang zum eigenen Zimmer verbot und so seine eigene kleine Welt kreierte.
ZGG: Ich glaube, an dem Punkt, an dem ich mich befinde, muss ich irgendwas von Bestand machen, keine Installation, die nur für die Zeit einer Ausstellung existiert und dann abgebaut wird. Dieses Projekt ist etwas von Dauer, ich will es zu einer Plattform machen, so etwas wie eine Raketenabschussstation. Ich brauche eine Plattform, aus der heraus ich erforschen kann, welches Geschoss ich auf welches Ziel schießen kann, das eine in Richtung Venedig, das andere nach Kassel oder sogar noch weiter. Nach dem Abschuss habe ich das Gefühl, dass plötzlich alles klar und offen ist.

JS: Offen ist es nicht, denn da gibt es eine Mauer! Das neue Imperium. Sie sind der Herrscher Ihrer eigenen Welt, wie Michael Jackson in Neverland!
ZGG: Mauern lassen sich leicht aufbauen und wieder zerstören. Ich habe meine viele Male wieder abgebaut. So bin ich noch immer offen. Ich habe die Mauer bereits vier Mal aufgebaut und wieder zerstört. Hie und da sagt ein Bauer zu mir: „Ich habe da dieses Stück Land, das ich dir verkaufen will. Willst du es oder nicht?“ Und dann kaufe ich es. Ich reiße also meine Mauer nieder und baue sie wieder auf, rund um das neue Stück Land herum. Ich könnte bis in alle Ewigkeit weiter expandieren, ohne Begrenzungen. Vielleicht kann ich irgendwann alle diese Mauern niederreißen und die ganze Welt wird mir gehören.

JS: Stimmt es, dass Sie Pavillons für Freunde und Verwandte bauen?
ZGG: Ja.

JS: Kann ich meinen eigenen Pavillons bekommen?
ZGG: Ja.

JS: Dass Künstler derartige Fantasien haben, kennt man ja, aber selten gehen sie dann so weit, wie Sie es tun. Das ist ähnlich konkret wie Andy Warhols „Factory“, die er im urbanen Kontext von New York etabliert hat, und in der alle seine Freunde zusammenkommen konnten, um Neues zu erfinden, zu produzieren und sich auszutauschen.
ZGG: Seine „Factory“ war ein schon existierendes Gebäude. Ich hingegen muss mein Reich von Null aufbauen. Ich habe keine Ahnung, wann es komplett fertig gestellt sein wird. Im Moment ist es noch nicht mehr als ein Stück Land.

JS: Sie können es also noch gar nicht benutzen?
ZGG: Der Konstruktionsprozess macht mir Spaß. Es ist eine vollkommen plausible Möglichkeit, dass die Regierung es irgendwann beschlagnahmen wird. Es ist illegal, es ist ein nicht genehmigtes Gebäude. Aber wenn stört es? Ich bin süchtig danach und habe im Laufe des Prozesses Kapital angesammelt.

JS: In China ist die Situation ja gerade so, dass jeder sich irgendwie mit der Regierung einigt, um seinen eigenen Raum zu erweitern, aber Ihr Beispiel ist extrem. Möglicherweise kann die Regierung Ihr Landprojekt gar nicht konfiszieren.
ZGG: Ich bereite mich auch vor, denke über Möglichkeiten nach, das Projekt zu legalisieren.

JS: Mit der Hilfe von Anwälten?
ZGG: Nein, ich frage einfach nur so herum. Solange Sie Ihre Beziehungen einwandfrei pflegen, wird sich keiner mit Ihnen anlegen. Die kommen und verlangen ein bisschen Geld. Wenn man die Strafe erst einmal bezahlt hat, ist man irgendwie stillschweigend akzeptiert. Keiner sagt etwas dagegen, aber so funktioniert das. Mir macht das einfach gerade Spaß.

JS: Welche Vision haben Sie für das Gelände? Was sind Ihre visuellen oder konzeptionellen Pläne? Haben Sie vor, dorthin zu ziehen, wenn es irgendwann fertig ist?
ZGG: Ich habe das noch nicht ganz durchdacht. Erst einmal habe ich nur einen sehr primitiven Wald dort angelegt. Ich habe dazu Jahrhunderte alte Bäume aus aller Welt gekauft und sie dort wieder eingepflanzt.

JS: Wie sehen diese Bäume jetzt aus?
ZGG: Mehr als die Hälfte der Bäume sind gestorben, ich fühle mich echt betrogen.

JS: Passiert Ihnen das öfter?
ZGG: Nein, nicht mehr. Früher hatte ich keine Erfahrung, aber jetzt hole ich Rat bei Experten ein darüber, zu welchem Zeitpunkt man diese Bäume am besten umpflanzt. Es ist im Frühling. Dennoch ist es manchmal vorgekommen, dass ich einen Baum sah und ihn unbedingt haben wollte, aber sobald sie ihn ausgruben, war er tot. Ich wollte ihn einfach sofort bei mir haben, ihn jeden Tag betrachten können und glücklich sein.

. . . . . .


JS: Das Ganze sieht ein bisschen nach archäologischem Modernismus aus. Es zerstört die Landschaft. Wird es immer in so einem halbfertigen Zustand bleiben wie jetzt?
ZGG: Es sieht aus wie der Rohbau einen Hauses, das sein Architekt nicht verkaufen konnte.

JS: Werden Sie die Gebäude fertig stellen?
ZGG: Das sind eigentlich gar keine Gebäude. Es sind die Gerüste für vier riesige Berge. Irgendwann später werden sie mit Felsen und Gestein umgebaut.

JS: Aber warum haben Sie nicht einfach ein Stück Land gekauft, auf dem es schon Berge gibt.
ZGG: Weil man echte Berge nicht einfach von innen aushöhlen kann. Es werden nämlich Menschen im Inneren meiner Steinberge wohnen. Ich stelle alles selbst her, den Wald inbegriffen. Das ist ein sehr langer Prozess.

JS: Also wollen Sie Ihr Leben lang daran arbeiten?
ZGG: Das weiß ich nicht. Ich will einfach nur die Zeit verstreichen lassen.

JS: Haben sie vor, irgendwann dort zu leben?
ZGG: Natürlich, wenn ich das ganze Ding schon baue, dann will ich mich auch daran erfreuen. Wenn es fertig ist, wird es zu einem Sanatorium werden. Denn wenn der Wind dort weht, gibt es ein ziemlich angenehmes Klima.

JS: Wie viele Menschen arbeiten dort?
ZGG: Zu Spitzenzeiten mehr als hundert.

JS: Leben diese Menschen dort?
ZGG: Einige von ihnen ja.

JS: In Zelten?
ZGG: Nein, sie leben in selbstgebauten einfachen Wohnstrukturen, denn manche von ihnen sind Arbeitsmigranten aus anderen Gegenden.

JS: Haben Sie zumindest schon ein fertiges Haus für sich selbst?
ZGG: Ja, fast. Es gibt schon ein Wohnzimmer und eine Küche, in der Leute essen können. Die Essensversorgung ist eines der dringendsten Probleme bei dem Ganzen.

JS: Wie oft sind Sie dort, einmal im Monat, einmal in der Woche?
ZGG: Es gibt dort gerade so viel, was man den Arbeitern zeigen muss. Ein Groß-
teil des Projektes basiert auf meiner Vor-
stellungskraft. Wenn erst einmal die Struktur gebaut ist, muss ich mir überlegen, wo der Eingang und wo der Ausgang sein soll. Es ist alles in meinem Kopf.

JS: Werden diese Berge wie Hochhäuser aussehen?
ZGG: Nein, sie werden schon wie Berge aussehen, ganz natürliche Berge aus Stein.

JS: Und das Land haben Sie Bauern abgekauft?
ZGG: Ja, genau.

JS: Und die haben Ihnen die Besitzrechte per Urkunde übertragen?
ZGG: Ja, ich habe eine Urkunde im Gaundong-Stil.

JS: Sind Sie sehr reich?
ZGG: Nein, ich habe mein ganzes Geld für dieses Projekt rausgeworfen. Es ist sozusagen die Bank meines Imperiums, die Berge und Häuser ansammelt. Ich finde das gut, wenn man als Künstler sein verdientes Geld irgendwann wieder in seine Kunst investiert und in irgendeiner anderen Form von neuem wachsen lässt.

JS: Also ist das Ihr zentrales Projekt, Ihr Lebensprojekt?
ZGG: Im Moment zumindest. Sollte ich eines Tages das Interesse daran verlieren, suche ich mir möglicherweise irgendetwas anderes.

JS: Dann würden Sie aber doch all die aufgebrachte Energie und das investierte Geld verlieren.
ZGG: Nicht zwingender Weise, denn ich glaube, der Prozess, unsichtbares Kapital anzuhäufen, ist wichtiger. Die Bebauung dieses Geländes hat mich geöffnet und es mir erlaubt, mich um nichts mehr zu kümmern.

JS: Schenken Sie Feng Shui Beachtung?
ZGG: Nein.

JS: Es ist Ihnen also egal, wo die Berge stehen und der Fluss verläuft?
ZGG: Wenn man in etwas genug Geld steckt, kommt das Feng Shui von selbst auf. Bei meinem handelt es sich um ein ganz einfaches, normales Stück Land. Es hat also keinen Sinn, darüber zu reden, ob das Feng Shui gut oder schlecht ist. Es ist ein Stück Scheiße, ich habe zufälligerweise einfach nur all mein Geld da reingesteckt, da ist es doch klar, dass das Feng Shui gut ist.

JS: Was haben Sie architektonisch gesehen mit diesem Land vor?
ZGG: Lassen Sie es mich Ihnen erklären. Im Computerspiel Age of Empire gibt es eine geheime Waffe, ein Kind auf einem Dreirad. Vorne am Dreirad kann man eine Kanone abschießen, mit der das Kind alles zum Explodieren bringen kann. Mein Plan basiert auf dem Profil dieser Figur. Es geht um eine geheime Waffe, die man zur Verteidigung benutzen und die ganze Armeen von Angreifern aufhalten kann. Sobald sich Leute nähern, wird das Feuer eröffnet und alles rundherum komplett zerstört, in Ruinen verwandelt.

JS: Wann soll dieses Projekt gebaut werden?
ZGG: In weiteren zwei Jahren.

JS: Wie lange arbeiten Sie schon daran?
ZGG: Drei Jahre, seit Ende 2005. Allein der Bau der Grenzmauer rund um das Gelände erweist sich als unglaublich schwierig, weil man die Grenzen mit den benachbarten Bauern aushandeln muss.

JS: Ich möchte es sehen. Ich will wissen, was Sie für mich gebaut haben!
ZGG: Ich kann Ihnen ein Gästehaus anbieten.

JS: Ich will kein Gästehaus, ich will „Jeromes Haus“!
ZGG: Und was für eine Art Haus wollen Sie haben? Bitte sagen Sie nicht, Sie wollen ein Museum bauen.

JS: Nein, einfach nur mein eigenes Haus.
ZGG: Das ist in Ordnung, aber ohne Kli-
maanlage! [ Lacht.]

Aus dem Englischen von Anne Wupper und Elisabeth Dobbler.




Kommentar

Der Artikel ist bisher nicht kommentiert worden

Neuen Kommentar einfügen

Empfohlene Artikel

Contents 2016/1 Contents 2016/1
Contents of the new issue.
Missglückte Koproduktion Missglückte Koproduktion
Wenn man sich gut orientiert, findet man heraus, dass man jeden Monat und vielleicht jede Woche die Chance hat, Geld für sein Kulturprojekt zu bekommen. Erfolgreiche Antragsteller haben genug Geld, durchschnittlich so viel, dass sie Ruhe geben, und die Erfolglosen werden von der Chance in Schach gehalten. Ganz natürlich sind also Agenturen nur mit dem Ziel entstanden, diese Fonds zu beantragen…
Ein Interview mit Mike Hollands Ein Interview mit Mike Hollands
„Man muss die Hand von jemandem dreimal schütteln und der Person dabei fest in die Augen sehen. So schafft man es, sich den Namen von jemandem mit Sicherheit zu merken. Ich hab’ mir auf diese Art die Namen von 5.000 Leuten im Horse Hospital gemerkt”, erzählte mir Jim Hollands. Hollands ist ein experimenteller Filmemacher, Musiker und Kurator. In seiner Kindheit litt er unter harten sozialen…
Tunelling Culture II Tunelling Culture II