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Orte und Bewegungen Václav Bělohradskýs Einige Beobachtungen aus der jüngeren Zeit

Zeitschrift Umělec 2010/1

01.01.2010

Tereza Stockelová | en cs de


In Prag bewegt sich Václav Bělohradský zwischen vielen Orten, Kontexten und Generationen. Ein Kommentar in der Tageszeitung oder ein Essay in einer Kulturbeilage, zuweilen ein Kurs an der Universität oder die Betreuung studentischer Arbeiten, mal die Teilnahme an einer TV-Debatte, Vorlesungen oder Diskussionen mit Politikern. Als er Anfang der neunziger Jahre begann, von Italien, wohin er 1970 emigriert war, regelmäßig nach Prag zu reisen, wirkte er als Liberaler vor allem im rechten politischen Spektrum. Er glaubte an das traditionelle parlamentarische System und unterstützte entschlossen den „Kapitalismus und die bürgerliche Tugend“ (so auch der Titel eines seiner Bücher, das einige seiner Zeitungskommentare versammelt). In seinen Universitätskursen provozierte er zugleich mit seinen postmodernen Operationen. In dem Moment, da viele hofften, dass in Prag endlich die Geistes- und Sozialwissenschaften auf einen soliden unpolitischen Boden gestellt werden können, mussten sie erkennen, dass die Grundlagen brüchig sind und Politik überall herrscht. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre verlor Bělohradský nicht nur den Glauben an den postsozialistischen tschechischen Kapitalismus, sondern an den Kapitalismus überhaupt und „wurde erneut zum Dissidenten“. Dem Kapitalismus gelingt es bis heute nicht, unsere Probleme zu lösen, seien es ökologische oder das der globalen Ungleichheit. Im Gegenteil, er ist deren Kern. Anstelle von Kommentaren in rechtsgerichteten Zeitschriften begann Bělohradský, Essays für Kulturbeilagen linker Tagesblätter zu verfassen, von denen einige auch in sein Buch Gesellschaft des Unwohlseins (Společnost nevolnosti)1 aufgenommen wurden. Bei den Wahlen im Jahr 2006 unterstützte er die Grüne Partei, wobei er sich wünschte, dass diese etwas zwischen einer Partei und einer sozialen Bewegung bliebe. Václav Bělohradský bewegt sich in Prag zielbewusst, unabhängig und schnell: vorbereiten, beenden, erkunden, sich treffen, bewerten, formulieren. Wenn wir uns zu einem Bier verabreden, muss er bereits nach kurzer Zeit an einen anderen Ort eilen.
Václav Bělohradskýs zweites Zuhause ist Italien, wo er seit über 20 Jahren an den Universitäten in Genua und jüngst auch in Triest und Gorizia arbeitet. Ich habe ihn dort erlebt, als ich an einer Konferenz teilnahm. Ich erinnere mich, wie er mich durch Gorizia führte, erinnere mich an den Rahmen seines Fahrrads, an das Frühstück im Kaffee (mit Zeitunglesen, Croissants und Cappuccino, zu dem sich Václav später schwarzen Piccolo bestellte, den er in die Tasse goss, als ob er die Milchreste an den Rändern nicht verschwenden wollte), an die Studenten in der Straße und das Leben, das sich um die Universität dreht, bestimmt durch deren Atmosphäre und Zeit. (Václav sagte einmal, wenn er in eine neue Stadt kommt, schaut er sich immer zuerst die Universität an, nach der er sich dann richtet.) Hierher gehört auch das schreckliche Italien eines Berlusconi, die rasant ansteigende Zahl zugelassener Studenten an den Universitäten und deren extremes Wohlwollen gegenüber den Interessen der Region und der Arbeitgeber, der „Ethno(Techno)kratie“. In meiner kurzen Beobachtung war dies aber zugleich ein Leben in der Nähe des Meeres, viel fließender, duftender und wohlwollender als die sprunghafte, postsozialistische Prager Art.
Prag und Gorizia sind keine Gegensätze. Es sind vielmehr zwei Varianten der Funktionsweise von öffentlichem und universitärem Raum, die die Gesellschaft formen will. Einige Male habe ich Václav außerhalb dieser beiden Welten erlebt, oder auf dem Weg zwischen diesen. Es war naiv zu glauben, dass der Mensch dort, wo er außerhalb des öffentlichen Raumes ist, mehr er selbst ist. Václav Bělohradský lebt im öffentlichen und universitären Raum. Als Person ist er ohne diese nicht denkbar. Ebenso wenig lässt sich sagen, dass er in diesen Räumen nicht über sich selbst spricht. Er tut dies viel häufiger als die überwiegende Mehrheit der Akademiker. Gesellschaft des Unwohlseins verweist auf Emotionen – über die er wiederholt sprach wie über seine eigenen. Dennoch ist ein Treffen mit Václav außerhalb und zwischen den Welten eine besondere Erfahrung, bei der sich die anderen Dimensionen seiner Person entfalten und die Langsamkeit über Bewegung und Aktion dominiert; das Nachfolgen beherrscht die Notwendigkeit zu formen und zu formulieren, Kindheit und Alter das Erwachsenendasein. Die Chinesen würden vielleicht vom Raum für die Yin-Energie sprechen. Die Reise und das Pendeln zwischen Italien und Prag (und zuvor Frankreich und Deutschland) scheinen den Raum für Entschleunigung und Zerstreuung zu gestalten. Die Gegenwart an einem Wirkungsort hingegen braucht Bewegung und das Verfolgen von Zielen. Vielleicht ist auch in der Unfreiheit diese bestimmte Freiheit versteckt.
1 Bělohradský, Václav: Společnost nevolnosti. Eseje z pozdější doby. Praha: SLON, 2007.
Aus dem Tschechischen von Karin Rolle.





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