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Der junge Mann mit der Minolta vor der Brust
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2007, 4
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Der junge Mann mit der Minolta vor der Brust

Zeitschrift Umělec 2007/4

01.04.2007

Lenka Vítková | fotokunst | en cs de es

„Fotografie in der Tschechoslowakei der 70er Jahre“, Galerie „U Bileho Jednorozce“ Klatovy (Klattau), Tschechische Republik, Kuratoren: Jan Freiberg und Pavel Vancat, 2.9.-28.10.2007

Eine Normalisierung erwarteten die Tschechoslowaken erst nach dem Abzug der sowjetischen Truppen von ihrem Territorium. Gustav Husak jedoch sah es als notwendig an, mit der Normalisierung der Verhältnisse sofort, also auch unter Anwesenheit der Besatzer zu beginnen. In diesem Zusammenhang lässt sich Normalisierung auch als Ausdruck einer Akzeptanz verstehen, eines Abfindens mit der Realität und dem restriktiven Leben in einem Land des sowjetischen Blocks, in dem man auf kein Morgen wartet, sondern im Hier und Jetzt lebt.
Auf dem Bucheinband zu Vladimir Parals Werk „Freude bis in den Morgen“ beschreibt eine authentische Stimme aus der Zeit der Normalisierung das, was den Helden des Buches gemeinsam ist: „Sie rebellieren gegen alles, was sich als Norm des heutigen Lebensstandards ausgibt. Sie kämpfen im Grunde genommen gegen alle, die sich ohne Minderwertigkeitskomplexe mit ihrem Alltag abfinden; die sich ganz normal in die Pflichten eines arbeitsamen Menschen fügen und die dann genauso selbstverständlich alle Vorteile, die ihre Arbeit ihnen bringt, ausnutzen.“ Vladimir Paral, selbst Chemiker, verortet in den Sechziger Jahren seine narrative Landschaft in den nordböhmischen Fabriken. In den Siebziger Jahren gab er Romane heraus wie „Die professionelle Frau“, „Der junge Mann und der weiße Wal“, „Das Generalwunder“ und eben „Freude bis in den Morgen“. Dabei geriet er bei dem Versuch, den kritischen Ton seiner Arbeiten aus den Sechzigern etwas zu entschärfen, ohne dabei den Abstand zum Regime zu verlieren, an die Grenzen zur Parodie auf Schundliteratur. In den Achtziger Jahren gelang es ihm, literarisch aus den unbeweglichen Kulissen der Normalisierung in die ferne Zukunft des Science-Fiction zu entfliehen. Im Vergleich zu den Schriftstellern erging es den Fotografen in den Siebziger Jahren nicht anders. Sie fühlten sich einer Elite zugehörig, für die es in der Gesellschaft keinen Platz gab, die sie aber dennoch für ihre Umgebung verkörperten. Die romantische Ausstrahlung der Person eines Fotografen fing in den Achtziger Jahren der Film „Dobre svetlo“ („Gutes Licht“) von Karel Kachyna ein: Karel Hermanek in der Rolle des Fotografen Viktor Pruha findet seine Inspiration in dem Roma Mädchen Aranka. Die von ihr aufgenommenen, gewagten Fotografien lösen einen Skandal aus und bringen ihrem Autor Schwierigkeiten im sozialistischen Kollektiv. All die Schwierigkeiten aber verstärken nur die erotische Anziehungskraft des Fotografen, dessen wichtigste Eigenschaft in der Freiheit liegt, den eigenen Blick auf die Welt zu materialisieren. Übrigens sind durchaus Beispiele von Fotografen bekannt, die der Antonioni-Film „Blow up“ zur Fotografie geführt hat.
Das Ziel der beiden Kuratoren Pavel Vancat und Jan Frei-
berg war es, mittels der Fotografie die Bildsprache der Sieb-
ziger zu rekonstruieren. Daher versammelten sie auf den drei Galeriegeschossen im westböhmischen Klatovy nicht nur herausragende Einzelpersönlichkeiten, an deren Beispiel uns die Kunstgeschichte gewöhnlich präsentiert wird. Auch konzentrierten sie sich dabei nicht nur auf die so genannte Kunstfotografie, sondern stellten neben Dokumentaraufnahmen auch Werbefotografien und Arbeiten von Amateuren aus, wobei sie selbst vor Randerscheinungen hart an der Grenze zum Kitsch nicht zurück-
schreckten. Die Ausstellung „Fotografie in der Tschechoslowakei der 70er Jahre“ vermittelt so einerseits das, was sich vor dem Objektiv abspielte, andererseits bildet sie aber auch die gesellschaftlichen Bedingungen im Umkreis der Kamera des Fotografen ab. Die ausgewählten Arbeiten stammen zu ca. 80% direkt aus privaten Archiven der ausgestellten Fotografen. Dank dieser Tatsache überragt das Ausstellungsmaterial bei weitem den Umfang dessen, was in der Entstehungszeit als bedeutend galt und somit in den Sammlungen der staatlichen Institutionen endete. Diese Auswahl führte zu einem weit präziseren Bild der Siebziger Jahre in der Fotografie, als wenn sich die Kuratoren lediglich auf das übliche Durchforsten von schon ausgewähltem und historisch legitimiertem Material beschränkt hätten. Und ganz nebenbei erlangten sie bei ihren Expeditionen so auch einen Einblick in die späteren Lebensläufe ihrer Helden.
Die Haltung der Kuratoren in ihrer Rolle als Jäger-Sammler-Archivare spiegelt sich auch im Wesen der Ausstellung wieder. Eine ungewöhnliche Verdichtung der Fotografien in Ballung, Raster und Block vermittelt den Eindruck, man habe auch das „Dazwischen“ ausgestellt. Mehr bedeutet manchmal eben auch mehr. Einzelfotografien in einer minimalistischeren Ausstellung würden natürlich besser zur Geltung kommen; Qualität versteht sich hier jedoch als Ausdruck von Interesse, weniger von Abgehobenheit. Ausgestellt wird nicht nur das Material, sondern die Breite der Auswahl – als ob der den Fotografen eigenen Versessenheit des Festhaltens, von Seiten der Kuratoren die Besessenheit des Zeigens entgegengesetzt werden soll. Übrigens kehren wir hier in eine Zeit zurück, wo der Begriff Masse als Attribut sehr gebräuchlich war. Durch Raumteilungen mit Stellwänden werden Wege und Holzwege der Fotografieentwicklung angedeutet. Die Anordnung der Installation beinhaltet eine Reihe von persönlichen Verweisen der Kuratoren, die nicht zwingend lesbar sein müssen, welche aber ein wertvoller Aspekt des Zugangs sein können. Die Bildsprache wird als Folge von gesellschaftlichen Umständen begriffen und man verfolgt darin die tiefere Bedeutung. Die Verwendung von leinwandbezogenen Stellwänden, Gläsern und Rähmchen respektiert wie auch die Räumlichkeiten der Galerie selbst, die ebenfalls voller Erinnerungen stecken, die Weise des Ausstellens aus der Entstehungszeit der Fotografien; einer Zeit, in der noch keine klare Trennlinie zwischen dem Handwerklichen, dem Künstlerischen und dem Kitsch in der Fotografie herrschte.
Unter den Bedingungen der eingeschränkten Freiheit, wo das Ehestandsdarlehen den Gipfel der Selbstverwirklichung darstellte, florierten alle Arten von Freizeitaktivitäten. Dazu gehörte neben den Aktivitäten in Natur und Kleingarten eben auch das Fotografieren. So bildete sich in den Siebziger Jahren ein enges Netz von Fotoklubs, und mit roten Glühbirnen verwandelten sich massenhaft Plattenbau-Bäder in Dunkelkammern. Im ersten Geschoss der Galerie repräsentieren die Arbeiten der Gruppen „Setkani“ (Begegnung) und „Epos“ das breite Fundament der Amateurfotografie der Siebziger. Auf theatralisch arrangierten Bildern leuchten weiße Frauentorsi aus einer postindustriellen Landschaft in einem Fotografiestil, den man als eine populäre Variante des Surrealismus bezeichnen könnte. Trophäen von Fotowettbewerben erinnern daran, dass es sich in diesen Fällen um eine skurrile Freizeitbeschäftigung zwischen Sport und Kunst handelte, die bei Wettbewerbsbeteiligung im In- und Ausland zusätzlich mit einer Prise Spannung gewürzt war.
Der große Umfang der ausgestellten Dokumentaraufnahmen verdeutlicht, wie sich diese Art der Fotografie in den Siebzigern als ein eigenständiges und lebensfähiges Genre etabliert hat. Eine ganze Reihe klassischer Dokumentarfotografen fanden in dieser Zeit zu ihrem Thema, dem sie sich in Varianten vielleicht bis heute widmen; viele erlebten damals ihren Schaffenshöhepunkt. Die Fotografie artikulierte auch soziologische Themen, es entstanden Zyklen von realen Ansichten des Lebens in den tschechischen Städten. Das Leitmotiv der Dokumentaraufnahmen war gleichzeitig die Suche nach einem „Idyll“ oder einer Alternative als Gegenpol zur Banalität des Lebensalltags. Man begab sich in Roma-Siedlungen, in die Berglandschaft der Slowakei oder ins westliche Ausland. Die Fotografen balancierten dabei an den Rändern des Alltäglichen mit Szenerien aus Betriebsfesten, mit Kindern, mit Abbildungen ländlicher Anwesen als Spiegelbild der Welt wie auch als Orte der Zeitlosigkeit und der Schicksalsergebenheit.
Die der angewandten Fotografie gewidmete Abteilung wirkte im Rahmen der Ausstellung wie das wahre Schaufenster der Siebziger. Kalender und Schallplattenhüllen repräsentieren die ästhetischen Ideale und Idole der Zeit. Fotografien wurden auch in der Innenarchitektur eingesetzt; man entwickelte dazu spezielle Techniken wie das Übertragen der Aufnahmen auf Laminat, womit Rauch- und Feuchtigkeitsabweisende Bilder entstanden. Die Werbefotografie für die von den sozialistischen Betrieben ausgespuckten Produkte war einerseits ein Mittel, um vorzutäuschen, die Qualität sei wirklich das Ergebnis von gesunder Konkurrenz und freiem Wettbewerb. Andererseits gehörte sie zu den Exportschlagern (der Unterschied zwischen der Produktion für den Export und für das Inland ist deutlich sichtbar) und war zudem ein angesehener Beruf. Der Profifotograf galt damals als Elitefigur.
Im zweiten Galeriegeschoss spricht die Ausstellung die Ambitionen der Kunstfotografie zur Abstraktion und zur Dekorativen Kunst an und bewegt sich im Umkreis der Person von Jan Svoboda. Im Jahre 1975 wurde das Institut für Künstlerische Fotografie an der Prager Filmhochschule (FAMU) gegründet, wo sich bis dahin die Fotografen am Institut für Kamera konzentrierten. Mit der automatischen Mitgliedschaft der FAMU-Absolventen beim Tschechischen Fonds der Bildenden Künste (CFVU) entstand eine neue Generation von Profifotografen, die Ära der Amateure war vorbei.
Im konzeptuellen Anhang der Ausstellung, den wir in dem aus der Galerie führenden Treppengang finden, weist man schließlich darauf hin, dass hinter dieser Wirklichkeit noch weitere Realitäten existieren, welche zum Gegenstand weiterer persönlicher Forschungen werden könnten. Vielleicht nicht von Fotografen betrieben und möglicherweise auch nicht auf dieses Medium beschränkt.






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