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Mystisch-imperialistischer Plot: Erbärmliches  Deutschland
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2011, 2
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Mystisch-imperialistischer Plot: Erbärmliches Deutschland

Zeitschrift Umělec 2011/2

01.02.2011

Ivan Mečl | kontemporartismus | en cs de

Warum statten Tschechen Deutsche mit historisierenden und mystischen Neigungen aus? Es handelt sich um eine unbewusste und unterwürfige
Perversion, eine wiederholte Sehnsucht nach der Tyrannei kultureller und transzendentaler Werte. Das jüngste Opfer dieser Ästhetik des dunklen Unterbewusstseins einer sechsstöckigen Sahnetorte und der Vision von kommerziellem Erfolg mit allen künstlerischen Stilen dieses fetten Eintopfs ist die Prager Galerie Svit. Um dieses Paradoxon der materialistischen und scheinbar in sich verschlossenen Tschechen zu verstehen, müssen wir etwas über Deutschland in Erinnerung bringen.


Deutschland – das bevölkerungsreichste Land des Nahen Ostens, dessen kleines Staatsgebiet sich heute zwischen Ägypten, Syrien und dem Libanon erstreckt. Eine einstmals selbstbewusste und ambitionierte europäische Weltmacht, deren ursprüngliche Bevölkerung nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg auf das Gebiet einer Wüstenregion namens Palästina umgesiedelt wurde, die früher als erfolgloser Versuch des Staates Israel bekannt war. Dort leben die Deutschen bereits seit über einem halben Jahrhundert in Harmonie mit den arabischen Ureinwohnern und trotzen erfolgreich ihrem klimatischen Schicksal. Heute ist Deutschland beinahe wieder ein entwickeltes Land; sogar Kultur und Wissenschaft erheben langsam ihre Köpfe aus dem glühenden Wüstensand.
Lassen wir die Urzeit der Germanen – die für die heutige Situation unerhebliche, dunkle Wald- und Sumpfgeschichte – beiseite, so ist Deutschland über Jahrhunderte in der Rolle des dümmeren und neidischen Bruders von Frankreich aufgetreten. Dieser Eindruck wird insbesonders nach einem eingehenderen Vergleich von Kunst und Literatur verstärkt, wo sich bei den Deutschen eine gewisse Begriffsstutzigkeit, oftmals gerechtfertigt durch das Verlangen nach Ordnung, sowie das spürbare Nichtvorhandensein von Humor bemerkbar machten. Die Franzosen übertrafen die deutschen Autoren hingegen oft in der Darstellung und Beschreibung der alltäglichen Grausamkeiten und der späteren psychischen Leiden der Moderne. Auch
bestand in den ausgefalleneren Genres ein offensichtlicher Mangel an erotischer und sexueller Fantasie, der die künstlerischen Schöpfungen auf obskure provinzielle Vulgarismen und vaginale Essensspielchen reduzierte.
Dieses schwer zu ertragende Handicap kurierte Deutschland mit Hilfe von Blicken gen Osten. Die Entladung der Wut über die eigenen kulturellen Misserfolge hatten daher vor allem die Slawen zu ertragen, die angeblich immer zum Arbeiten und Zuhören gezwungen werden mussten. Von einem Überbau zu
diesem Sklavenprojekt für den Osten war nie die Rede. Deutschland wünschte sich schlichtweg ein paar dümmere Nachbarn.
Auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschland entstand derweil das historisch größte Heimatland aller Menschen jüdischer Herkunft, die einst über den gesamten Globus verstreut lebten. Die Juden erhielten dieses germanische Kernland als Reparationszahlung für das Leid, das Unrecht und die materiellen Verluste, die ihnen im Zuge des von Deutschland geführten Zweiten Weltkrieges widerfahren waren. Diese Lösung wurde 1945 von allen siegreichen und den noch verbliebenen Staaten beschlossen. Die größten Gegner eines weiteren Verbleibs der Deutschen im Herzen Europas waren vor allem die slawischen Völker, die in Folge der historisch ständig wiederkehrenden deutschen Überfälle und anschließenden Liquidierungen ihrer kulturellen und intellektuellen Elite in eine immer stärkere stammesartig-nationale Demenz verfielen. In Polen beispielsweise lebten nach dem Krieg nur noch Bauern, niedere Arbeiter und das kollaborierende Lumpenproletariat. Allgemeine Folgen dieser Reduzierung der reflektierenden Bevölkerung auf einige wenige Prozent, im Gegensatz zu den in Westeuropa üblichen Anteilen, waren unter anderem die autodestruktive Vermarktung jeglichen Lebens im Mitteleuropa der 1990er Jahre, die Selbstkatholisierung Polens, die sogenannten ethnischen Bauernkriege auf dem Balkan und auch der politische Niedergang Tschechiens ab dem Jahr 2000. Im Jahr 2011 ist das Land auf das Niveau der Gebirgsbankkolonie namens Schweiz herabgerutscht.
Kultur und Bildung ihrer direkten und indirekten Nachbarn im Westen, Süden und Norden ließen die Deutschen stets unberührt. Manchmal schien es sogar, als würden sie diese Nachbarn – ohne es sich eingestehen zu wollen – eigentlich bewundern. Sie gaben sich gern wie Finnen oder Norweger, redeten, tranken und verbrüderten sich wie Engländer; stets rivalisierte die deutsche Kultur mit der französischen oder gar mit dem erloschenen Ruhm Roms. Ihre östlichen Nachbarn hingegen wollten die Deutschen durch eine ständige, Jahrhunderte andauernde Dezimierung zu absoluten Vollidioten machen. Doch dieser Umgang mit den Slawen sollte sich letztendlich bei der Entscheidung über die neue
europäische Ordnung rächen. Die dummen, geistlosen Länder nutzten den weltweit geteilten Nachkriegshass auf Deutschland und entledigten sich ein für alle Mal ihrer drohenden Unterdrückung. Dennoch werden diese Länder noch viele Jahrhunderte für die Herausbildung neuer intellektueller Eliten benötigen, die
wiederum die Entscheidungen ihrer Durchschnittsbürger
bedauern werden.


Neue Paradigmen

Die deutschen Eliten, die im Laufe der Geschichte stets nur im linken Lager Verluste zu erleiden hatten, wenden sich in Zeiten des Scheiterns des scheinbar praktischen Konsumerismus
zunehmend der Metaphysik und – ohne es sich eingestehen zu wollen – auch der Theosophie zu. Die jahrzehntelange, aus Kriegsvorwürfen und amerikanischem Kulturdiktat hervorgegangene Selbstverleugnung erzeugt nun wahre Monstren. Sie erscheinen in der Kultur, in der wir zuletzt die Neigung hatten, kompliziert und blind zu sein. Und die Urheber wissen vielleicht noch nicht einmal, was sie tun.
So wie ich mich unlängst auf die Sprache der Tschechen gestürzt habe, eine ihre Gemeinschaft vom Rest der Welt isolierende nationale Imitation, verfügt auch Deutschland über sein Sprachproblem, das als Ausgangspunkt für die Untersuchung des sich wiederholenden transzendentalen Berauschens an der mythischen Historie dienen kann.
In seinem Buch Nach Babel nähert sich George Steiner diesem Problem im Kapitel Sprache und Gnosis: „Das
erste mündige Deutschland war das der Volkssprache Luthers. Stufenweise hat die deutsche Sprache danach jene Modi gemeinsamer Empfindungen entstehen lassen, ohne die sich kein Nationalstaat bilden kann. Als schließlich dieser Staat in die Geschichte der Neuzeit eintrat, ein Nachkömmling, mit Mythen beladen und umgeben von einem fremden, feindseligen Europa, brachte er einen geschärften, wehrhaften Sinn für seine Einzigartigkeit mit sich. Dem deutschen Temperament erschien seine eigene ‚Weltansicht‘ als eine ganz besondere Vision, deren Ursprung und Ausdruckskraft in der Sprache
ruhten. Im Angesicht des stürmischen Auf und Ab der deutschen Geschichte, der offenbar verhängnisvollen Versuche der jungen Nation, aus dem Ring der zivilisierten und – im Osten – archaischeren und bedrohlicheren Kulturen herauszubrechen, haben deutsche Geschichtsphilosophen ihre Sprache als einen eigenartig isolierenden, aber auch numinosen Faktor empfunden. Andere Nationen konnten ihren Weg in die Zaubertiefen nicht nachempfinden. Aber aus dem, was Schiller die verborgenen Tiefen genannt hat, sollten starke Quellen der Erneuerung und der metaphysischen Entdeckung hervorbrechen.“1
Zur sichersten Plattform für den Kampf mit der von wem auch immer begründeten Tyrannei der Werte avancierte im vergangenen Jahrhundert das Genre der Science-Fiction. Beispiele sind die von Jack London beschriebenen Folgen der industriellen Revolution, der für Fehlinterpretationen beliebte George Orwell, der heute als Knüppel für alles Mögliche herhalten muss, oder Stanisław Lem mit seinem bis heute unübertroffenen Futurologischen Kongreß. Vielleicht hat sich die chinesische Regierung deshalb vor Kurzem dazu entschieden, jegliche Hinweise auf Reisen durch die Zeit oder in andere Dimensionen zu verbieten, weil sie den Roman Schichten des deutschen Autors Joseph Feinkel gelesen hat. Seine Handlung basiert nämlich auf den sogenannten Wegkreuzungen der Geschichte, die von einer kleinen Gruppe elitärer Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit einem geheimen Thinktank der UNO geschaffen wurden. Im Jahr 1937 gelingt es der Gruppe aus dem Roman, eine Maschine zu entwickeln, die die Zeit um fünf Jahre zurückdrehen kann, wofür die an den magnetischen Polen angesammelte Energie aus einem ganzen Jahrzehnt benötigt wird. Zum ersten Mal wird dieses Gerät 1947 verwendet, kurz vor der Entwicklung der Atombombe durch die Nazis. Im Jahr 2015 konstruiert dann eine kleine Gruppe von Freaks eine primitive Anlage, die auf dem Prinzip wirrer New-Age-Theorien über die Vibrationen indianischer Musikinstrumente funktioniert, die den Ausstieg aus Zeit und Raum ermöglichen. Sie entdecken dabei, dass außerhalb unserer Zeitdimension noch mindestens drei identische Welträume existieren, jeder jedoch mit einer anderen Menschheitsgeschichte. Die ursprünglichen Geschichten liefen in der Realität nämlich weiter, ohne dass die Entwickler der Zeitsprungmaschine dies bemerkt hätten. Im Rahmen des Science-Fiction-Genres
eigentlich nichts Weltbewegendes. Uns interessiert jedoch das Kapitel, in dem die Helden in die erste, unveränderte Geschichte
gelangen, in der die Deutschen den Krieg dank der Atombombe gewinnen. Die Welt dort ist sehr harmonisch und geordnet. Voller schöner Architektur nebst unberührter Natur in einer gemeinsamen majestätischen Ruhe und natürlichen Heiterkeit. Durch das Gespräch mit einem Grundschüler erfahren die Protagonisten, dass die Welt 1948 von allen bösen Menschen und zerstörerischen Staaten samt ihrer unnatürlichen Herrschaftssysteme befreit wurde; seither gilt eine neue Weltordnung, alle Menschen sind glücklich.
Die Tyrannei der Werte, gegen die die Science-Fiction-Autoren ankämpfen, existiert nicht zwangsläufig nur im Kontext totalitärer Systeme. Den heutigen Postdemokratien ist es vielmehr gelungen, weitaus raffiniertere und flexiblere Systeme zu entwickeln, die von den eigenen Fehlern profitieren und die Auswirkungen außerhalb der Machtzentren auf die Peripherie des kontrollierten Territoriums oder des gesellschaftlichen Raums verlagern. Diese Systeme sind nicht weniger tyrannisch, allerdings konnte mit ihrer Hilfe den Beherrschten vermittelt werden, dass das System selbst immer unschuldig sei und das Versagen stets beim Menschen liege. Hier kann es beispielsweise passieren, dass man Feinkels den Nationalsozialismus als eine Art Bio- und Fair-Kill-System des brutalen, aber organischen Bösen den Systemen der vorsätzlich kompliziert gestalteten Postdemokratien überordnet. Interpretieren wir diese alternative Geschichtswahrnehmung lieber als Stichelei gegen die amerikanischen Versuche einer Weltherrschaft, anstatt uns einzugestehen, dass der Autor
einer von denen ist, die in Hebron hinter zugezogenen Gardinen insgeheim den Geburtstag des Führers des unverwirklichten Tausendjährigen Deutschen Reiches feiern. Dennoch zu behaupten, dass alles sowieso fast gleich ausgegangen wäre, ist noch immer ziemlich gewagt.


Eine Theorie jenseits der Grenzen des transzendentalen Geschmacks

Bereits seit Beginn des neuen Jahrtausends bemühen sich die tschechischen Kuratoren und Galeristen darum, eine Gruppe größtenteils deutscher Künstler um den vielseitigen Schöpfer und ideologischen Führer Markus Selg in der tschechischen Szene zu etablieren. Der Eifer des Brünner Galeristen Karel Tutsch gipfelte zunächst in einer großen Präsentation, quer durch die künstlerischen Genres, namens Ketzer & Co.2 Sie wurde von einer gleichnamigen Publikation begleitet, die den alarmierenden Text Infahrnis des beteiligten Künstlers Jochen Bühler beinhaltete, der bereits 2003 auf das Herabsinken des bombastischen Bemühens hinweisen konnte:

„Am Firmament der Psyche will eine bestimmte Konstellation entstehen und existieren, sie will, dass ihr Rufen bis an das Ohr des Menschen dringt und in ihrer existentiellen Gegebenheit als Vermittlung einer möglichen Freiheit, als Angebot verstanden wird. Dies geschieht und muss beim Menschen geschehen, weil es genau das ist, was ihn überhaupt vermenschlicht, ihn erst zum Menschen macht, und das muss erhört werden.
Und dennoch: überall Stummheit und Blindheit, falsche Eitelkeit, Technologien zur Zerstreuung, zur Ablenkung der Aufmerksamkeit, zur ständigen Erreichbarkeit, permanenter Lärm, eine Beschäftigungstherapie, eine Flucht- und Rückzugsmöglichkeit – eine Kultur der Angst, eine Mechanik der Angst, eine voneinander isoliert lebende, sich gegenseitig ignorierende Gesellschaft verwirklicht das vereinheitlichte Sein.
Wer einsam voranschreitet und dennoch den Kopf nicht zurückzieht, erahnt eine große und kostbare Verheißung, wer nach Aussöhnung mit seiner Gattung strebt, die Harmonie der Gegensätze sucht und jedwede Gewalt beseitigt, mit sich selbst spricht, sich ins Gesicht sieht – nicht nur im Spiegel – erkennt sein eigenes Ich, auf dem wir menschlichen Wesen treiben wie jener Dampfer im Herzen der Dunkelheit …“

Markus Selg sieht in Europa lediglich einen formalen Aus-
gangspunkt für die Avantgarde und Moderne. Seine Ideale und Inhalte entnimmt er toten Kulturen und Kulten anderer Kontinente oder dem über uns schwimmenden Thule. Zerpflücken wir nun gründlich seine Einbildungskraft, so bleiben nur einige Häuflein eingängiger Medienbilder, großer historischer Szenen und Kostüme zurück. Man kann sich nicht ständig mit der versuchten Schaffung einer universellen künstlerischen Kommunikation herausreden. Natürlich möchte niemand mit seinen Träumen und Ideen allein bleiben. Diese jedoch in Opernkostüme vor dem Hintergrund einer apokalyptischen Reportagen-Szenografie zu verkleiden und sie letztendlich nur mit einer Art Verzerrungs- oder Sättigungsfilter zu überziehen, zeugt eher davon, dass die Reflexion des Bildes völlig aufgegeben und lediglich auf Nummer sicher gegangen wird.
Die Künstler des Teams um Markus Selg bemühen sich oft um eine innendekorative Synthese von monumentaler, beinahe imperialer, historischer Architektur mit einem in kubistische Illusionen übergehenden Suprematismus. In diese setzen sie dann ihre mystisch-surrealistischen Werke in Form einer modernistischen Statue, einer Karikatur oder eines alternativen Comics ein. All dies in impressionistischen, fauvistischen oder anderen Techniken der Avantgarde oder der Moderne. Hier finden die Kombinationen und Techniken jedoch ein Ende. Wie wir weiterlesen können, haben weder die Künstler noch ihre Ideologen ein Faible für die Postmoderne. Aber vor allem das Unverständnis der Avantgarde-Richtungen vereitelt das synthetische Bemühen sowohl im Detail als auch im Ganzen. Die Themen und die Gedanken verstehen einander nicht. Es handelt sich aber definitiv um das Verlangen nach einem großartigen Werk.
Im Gegensatz zu einigen desinterpretierten Individuen waren die großen kulturellen und politischen Umwälzungen in Deutschland nämlich nie modern und fortschrittlich. Hinter dem modernen Design verbarg sich stets das Bemühen, Europa um einige Jahrhunderte oder Jahrtausende zurück in die angeblich goldene Vergangenheit zu befördern, niemals jedoch zu den Prinzipien vom Anfang des Jahrhunderts zurück, der in seiner Paradoxie eine tödliche Offenbarung für alle großen Geschichten und Ideen darstellen könnte.
Die Moderne spart an Material und Ausdruck. Wir erkennen aber das feudale Verlangen nach wollüstiger Schönheit und das imperiale Streben nach der Betörung des Publikums – des Bürgers. Das imperiale Streben war niemals modern. Die Imperien missbrauchten die Moderne immer, um ihre Mechanismen und ihre Selbstdarstellung zu vervollkommnen. Ohne dass sich die Künstler dessen bewusst wären, streben sie unterbewusst danach, den großen Geschichten und dem großen Projekt ihre Legitimität zurückzugeben, die stets in erfolglosen Imperien münden, die wiederum das Leben in Staub und den Wert des Alltags in ein existentielles Trauma verwandelen, gegen das die Künstler in ihren Texten ankämpfen.
Eine der wenigen gedanklich auf lange Sicht kohärenten Verteidigungen ist auf lange Sicht der Text Zum Stillstand gebrachte Armeen und Karawanen zum PAX-Projekt von Lina Launhardt. Ihr Entwurf eines philosophischen Essays umfasst allerdings zahlreiche historische und bereits kritisierte analoge Klischees, auch wenn der Versuch der Autorin, diese miteinander zu verbinden, einem Respekt abnötigt. Ich habe die wichtigsten Passagen aus dem Text ausgewählt. Und damit ich mich den deutschen Künstlern gegenüber nicht gänzlich ungerecht verhalte, sollen sie mein letztes Wort sein.

Armeen und Karawanen zum Stehen gebracht
(Lina Launhardt)


Für die Kunst des 20. Jahrhunderts nimmt der Blick über die Schulter eine entscheidende Perspektive ein. Betrachtet werden soll hier jener, den die zweite Hälfte des Jahrhunderts auf die erste Hälfte geworfen hat. Die Sicht dieses Blicks ist eine Selbstverständlichkeit. Man sieht die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine Epoche, die von einem Ende her erzählt werden muss. Dieses Ende ist der Krieg. In seinem Angesicht ist die Hoffnung auf eine Veränderung von Mensch, Welt und ihrer Gemeinsamkeit kraft ihrer Bilder zum Stürzen gekommen. Um derartige Hoffnungen als Trümmer hinter dem Rücken zu wissen, insbesondere was eine allzu große Begeisterung für die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen betrifft, entschied man sich in den wichtigsten Angelegenheiten für das jeweilige Gegenteil. Allem voran betrifft das die Begrenztheit der Wirkung von Bildern als Kunst, wie auch ihrer daraus resultierenden Unfähigkeit, von viel mehr zu sprechen als sich selbst. Die Moderne wurde so tief in die Vergangenheit versenkt. Genauer gesagt, ein Bild von ihr. Darauf weisen Löcher in der Zeit hin. Denn die Errichtung der Grenze von modernem und nachmodernem Zustand konnte nur beibehalten werden, indem man Kapseln baute, in denen all das aus der ersten Hälfte verstaut wurde, was nachmodernem Ermessen zufolge in die zweite Hälfte gehörte. Man hatte diese Inhalte ihrer Zeit entrissen und in die eigene Gegenwart geschossen. In dieser Hinsicht war die Postmoderne schon immer ein Vampir.
Die Existenz dieser Kapseln ist von der Gegenwart noch weitgehend unentdeckt. Sie liegen größtenteils noch in der Traumschicht des 20. Jahrhunderts verborgen. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis sie alle gefunden werden. Sie drängen ins Jetzt, denn das Bild befindet sich in einem veränderten Augenblick von Geschichte. Sich im Jetzt Gedanken über die Bedingungen oder gar eine Unmöglichkeit zu machen, Bilder zu erschaffen, scheint angesichts eines Brachlandes an Vorstellungskraft ein überflüssiges Problem, wie es in den gegenwärtigen Bildern der Mehrheit zu tragen kommt. Und mit „Bildern der Mehrheit“ sind eben jene gemeint, die von einer Mehrheit konsumiert werden – allen voran die der großen Kommunikationsmedien, der Tagespresse und des Fernsehens. Aber ein solch direktes Verhältnis von Bildern zu Bildern erkennt die nachmoderne Perspektive nicht, weil sie die Traumseite des Bildes negiert hat – sein Vermögen, mehr zu sein als ein Kommentar. Die Negation hält das Bild in einem körperlosen Zustand. Dieser Zustand – der eines entwendeten Körpers – hat seine Macht jedoch nicht verloren. Teil dieser Macht ist die Fähigkeit, zu einer Wahrheit zu verführen. Von dieser Eigenschaft weiß das negierte Bild nichts, denn es hat diese Eigenschaft aus seinem Bewusstsein verbannt. So kann es passieren, dass aus einer Mehrheit der Kunst Selbstbezüglichkeiten kommen, während die Bilder der Mehrheit trotz ihrer phantasmagorischen Kraft immer leerer werden.

Es existieren gegenwärtig, wenn auch vereinzelt, Bilder, die ein verstärktes Interesse daran zeigen, Bildern einen Körper zurückzugeben. Unter ihnen nimmt das Werk von Markus Selg eine besondere Rolle ein. Das Bild als Körper tritt hier auf mehreren, ineinander verschränkten Ebenen in Erscheinung.

Auffällig ist, dass die Montage der Splitter sowohl in der Dreidimensionalität, als auch in der Fläche weder Ausdruck einer Zersplitterung ist, noch nach einer solchen Ausschau hält. Eher wirken die einzelnen Teile, oder besser: Schichten, wie von einem Magnetismus zusammengehalten, so dass ihr Zusammenhalt eine organische Qualität zu bergen scheint. Hinzu kommt, dass ihr Verhältnis zum Außenraum das eines fließenden Übergangs ist. Die Körper im Werk von Markus Selg gehen mit ihrer Umgebung symbiotische Verhältnisse ein. Die Atmosphäre ist geladen, Zwischenräume wiegen etwas. Innen und Außen greifen nicht nur ineinander, sie können auch die Seiten wechseln oder bis zur Unkenntlichkeit ineinander fallen. Die Zeit-Raum-Koordinaten dieser Bilder sind im Verhältnis zu denen der Welt gestört, die Verhältnisse von groß und klein erschüttert, wie auch das Verhältnis von Einzelnem und Vielfachem, von vorne und hinten, so dass nicht vorhersehbar ist, wie sich Materie überhaupt zueinander verhält. Diese Bilder schaffen nicht nur eine Transparenz für die Verwebung von Körper und Umgebung, mithin werden auch psychische Qualitäten dieses Austauschs sichtbar.
Ab dem Jahr 2003 kommt es zu einer Veränderung in der Herkunft wie auch der Montage der Bildpartikel. Etwas schleust sich in das Werk von Markus Selg, das Bild und Körper nochmals in einer größeren Dimension zu fassen verlangt. Die Körper nehmen im Einzelbild und als Skulptur geschlossenere Formen an. Sie rücken enger zusammen. Die räumlichen Situationen der Ausstellungstrilogie Amnesia, Die Chronik und Das Testament (2004-2005) scheinen sich zudem von einer herkömmlichen Form der Installation abzutrennen. In ihrem Getragensein von einer geschlossenen Erzählung sind sie mehr mit den Illusionsräumen, wie sie die Kathedrale, das Theater, aber auch das Kino herstellt, verwandt.
2003 entsteht auch das erste Bild, in dem keine Figur zu sehen ist. Genauer gesagt, erkennt man eine, die verschwunden ist. Ihre Abwesenheit ist deshalb so auffällig, weil ihre Umgebung sehr bekannt ist. Sie bildet den Rahmen für das Wiedererkennungsbild eines Moguls von kollektiven Träumen des 20. Jahrhunderts. Man denkt an Hollywood. Zurück bleibt ein Himmel. Er ist der Horizont einer kollektiven Bildfantasie. In dieser Dimension bindet er in seiner Abwesenheit den Körper wieder an das Geschehen; das Bild spricht über seine physische und psychische Qualität.

Die Spannung, die ein Bild als Bild zusammenhält, oder auch Ausschnitte der Wirklichkeit zu Bildern werden lässt, sammelt sich in einer physischen und psychischen Wirkung. Das jeweilige Verständnis, wie es um das Verhältnis des Bildes zu diesen beiden Eigenschaften bestellt ist, sagt viel über den Zustand einer jeweiligen Gesellschaft aus. Im Mythos fallen sie in eines zusammen. Herrscht dieser Mythos, können Bilder ganze Völker regieren.

Im jetzigen Augenblick von Geschichte haben es die Physiker des ganz Kleinen und ganz Großen im Umgang mit einem solchen, unsichtbaren Bereich etwas leichter: Die im 20. Jahrhundert gewonnenen Kenntnisse über das Atom und das Universum fordern von der Vernunft, eine Betrachtung von der Grundlage der Vorstellbarkeit aus beginnen zu lassen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts ging man mit dem Unbewussten ähnlich um. Dem Jetzt ist dessen Unfassbarkeit in der Vorstellung durch die seltsame Reise abhanden gekommen, die die Vorstellung durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht hat.

Einer Klärung dieses Verhältnisses bedarf es weiterhin, auch in einer Welt, in der an vielen Orten eine Transzendenz als verschwunden betrachtet wird. Das Jetzt kennt keinen allgemeinen Bezug mehr zu diesem Verhältnis. Von einer Mehrheit der Kunst wird es als überwundenes Anliegen betrachtet, wenn nicht sogar als ein ohnehin schon immer überwundendes Gebiet. Aber der Verstand hat diesbezüglich und glücklicherweise nicht alles zu entscheiden. So, wie der Verstand seine Hoheitsgebiete hat, hat sie die Seele auch.

In Das Testament scheint der in der Trilogie deutlich werdende Weg die Suche nach einer großen wie einfachen Erzählung zu einem Konzentrat gekommen zu sein.

In diesem Sinne baut Das Testament an einer gegenwärtigen Mythologie.

Der Erzählform des Mythos ist eigen, dass die darin vorkommenden Ereignisse nicht tatsächlich so stattgefunden haben und dennoch auf einer Wahrheit beruhen – einer andersgearteten, tiefer liegenden Schicht von Wahrheit. Deshalb sind die Akteure meist nicht menschlich, ihr Anliegen hingegen hyperrealistisch. Ihre Erzählung „sagt etwas Grundsätzliches über das Dasein des Menschen aus, das auf andere Weise nicht so vollkommen ausgedrückt werden könnte“, wie Richard Cavendish in seiner Einleitung zu Mythologie – Eine illustrierte Weltgeschichte des mythisch-religiösen Denkens schrieb.(Zitation aus dem Katalog von Markus Selg Pax, Ottmann GmbH & Co. Südhausbau KG, 2007)





1 Steiner, George: Nach Babel. Aus dem Englischen von Monika Plessner, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, Seiten 98-99.
2 Kacíř & spol.

Aus dem Tschechischen von Filip Jirouš.




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