Zeitschrift Umělec 2006/3 >> Nach der Katastrophe - Ein Veteran der 90er Jahre beichtet Übersicht aller Ausgaben
Nach der Katastrophe - Ein Veteran der 90er Jahre beichtet
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2006, 3
6,50 EUR
7 USD
Die Printausgabe schicken an:
Abo bestellen

Nach der Katastrophe - Ein Veteran der 90er Jahre beichtet

Zeitschrift Umělec 2006/3

01.03.2006

Ivan Mečl věnuje Vítu Soukupovi | en cs de

Im tschechischen Fernsehen sah ich eine Diskussion zwischen Vertretern der jüngsten Generation der zeitgenössischen Kunst. Danach hatte ich das Gefühl, eine nukleare Katastrophe erlebt zu haben, die so um 2001 stattgefunden haben muss. Die nachrevolutionären neunziger Jahre sind irgendwie verschwunden. Niemand kann sich mehr an sie erinnern. Niemand braucht sie mehr. Am allerwenigsten die heutigen tschechischen Kulturschaffenden, Künstler und deren Mitläufer.
Die junge Generation hat zu den neunziger Jahren keinen Bezug. Weder gibt es Kuratoren oder Theoretiker aus dieser Zeit, noch Modelle, die künstlerische Aktivitäten oder das Funktionieren von Institutionen beschreiben könnten. Wo soll der Bezug also herkommen? Wir haben es selbst verpfuscht. Mit unserem stillschweigenden Einverständnis wurde das Kulturministerium zu einem Ort, an dem Bohemiens ohne Kunstverständnis vor sich hin agierten. Diese unsere “Väterchen der Kunst” haben nie ein Gefühl für zeitgenössische Kunst gehabt − wir aber dachten dies von ihnen. Die wichtigste Institution für Austellungen und Sammlungen wird von einem emeritierten Künstler geleitet, der sie in eine Maschinerie zur Selbstdarstellung und Durchsetzung eigener Interessen verwandelt hat. Die übriggebliebenen staatlichen und städtischen Kunstinstitutionen haben ganze Arbeit geleistet, ihr Personal und ihre Ausstellungskonzeption zu “konservieren”, so dass heute niemand mehr irgendeine Veränderung oder Entwicklung erwartet. Die unabhängigen Galerien und andere Initiativen, die in den neunziger Jahren entstanden waren, sind heute verschwunden – oft aufgrund eigener Fehler, Inkonsequenz und mangelndem Überlebenswillen. Die Kunstszene funktioniert hier nicht. An den Kunstakademien lehrt kein einziger ausländischer Pädagoge, und die einheimischen Dozenten überschreiten hinsichtlich ihres Alters und ihrer Naivität jegliche akzeptable Grenze. Die theoretischen und organisatorischen Stars der neunziger Jahre haben sich zurückgezogen, oder sie sind ins Ausland emigriert. Einige von ihnen sind allerdings oft in undurchschaubaren Entscheidungskommissionen oder dubiosen Beratungsgremien anzutreffen. Diejenigen, die sich nicht korrumpieren lassen wollten, haben sich den Bereichen Forschung und Publizistik gewidmet oder sie leiten regionale Institutionen. Das sind Kreise, die ich nicht kommentieren möchte, von denen ich aber auch nichts mehr erwarte.
Die “große” unabhängige Szene wurde von Ausländern okkupiert gemäß dem Motto “Ich habe das Geld, also mache ich hier, was ich will”. Manchmal funktioniert das – und manchmal nicht. Meistens endet es in heillosem Chaos, das sich unter den Augen eher charakterschwacher Kuratoren vollzieht. Die neunziger Jahre haben stattgefunden, aber was ist dabei herausgekommen? Was ist aus dem unkritischen Imitieren irgendwelcher Modelle und Vorbilder für künstlerisches Schaffen geworden? Nichts, denn die waren damals schon überholt und altmodisch. Und es war ein rein formales Kopieren ohne ein tieferes Verständnis für den Sinn, eine Reduzierung künstlerischer Individualtät auf eine Anleitung “wie es zu machen ist”. Einige haben sich davon erholt, andere nicht – bisweilen ist es eben besser, nicht auf Ratschläge zu hören. Keiner einzigen Institution ist es gelungen, eine Konzeption zu entwickeln, die die Bedürfnisse der sich nun unter neuen Vorzeichen entwickelnden Kultur erfüllen könnte. Unsere Institutionen sind spätfeudale Herrensitze der jeweiligen Direktoren. Etwas Neues entsteht nicht, es gibt nur noch mehr Zentralisierung. Was ist von den Investitionen der neunziger Jahre übriggeblieben? Versuche man doch mal, diejenigen Initiativen aufzuzählen, die ihre Wurzeln in den neunziger Jahren haben. Die Ambitioniertesten haben aufgrund von enormen Betriebskosten oft draufgezahlt. In London oder Paris kann man das vielleicht aufbringen, in der Tschechischen Republik ist es langfristig unmöglich. Es scheint als hätten wir vergessen, wie das alles begann. Die Struktur des Kulturbetriebes hatte eigentlich keine Basis, der Samen des Ganzen waren kleine, billige und effektive Aktivitäten. Die größeren Investitionen waren ein bisschen so, als würde man teure Raststätten bauen ohne zu wissen, wo der Weg eigentlich hinführt. Was heute passiert, hat 15 Jahre Verspätung. Und noch immer treffe ich Leute, die eine große Kunsthalle bauen wollen, so in zehn oder zwanzig Jahren, vielleicht. Man sollte nicht versuchen, Künstler dazu zu bringen, riesige Resopalskultpturen zu machen. Sie sind dazu nicht in der Lage, und sie sind schon an kleinere räumliche Ausmaße gewöhnt. Das ist natürlich, ökonomisch und ökologisch.
In den neunziger Jahren gabe es eine Menge Klagen und Verleumdungen. Die Gründe waren Finanzen und Prestige. Die Fördermittel wurden zu dieser Zeit noch auf chaotische Weise verteilt, und es gab immer etwas, worüber man sich streiten konnte.
Intellektuelle, die seinerzeit die Revolution initiiert hatten, hatten nun Posten in der Regierung und in den staatlichen Institutionen. Deshalb war es keine Seltenheit, dass politisch engagierte, für Lobbyarbeit offene oder einfach gut betuchte Leute bei Ausstellungseröffnungen zeitgenössischer Kunst erschienen. Allerdings wurden sie allmählich durch Pragmatiker ersetzt, die sich eher für konventionelle Kulturgüter interessierten. Die Fördemittel für zeitgenössische Kunst wurden gekürzt, da ja diese Kulturgüter erst instand gesetzt werden müssen. Geradezu verblüffend ist die Politik der Sozialdemokraten, die gewaltige Summen für die Instandsetzung der einstigen bourgeoisen und feudalen Residenzen durchsetzen (*). Sonst hätten wir vielleicht mehr Geld für lebendige Kunst übrig und hätten nicht mit enormem finanziellen Aufwand alte Gräber restaurieren müssen.
Und so ist heute die Kunst, die Pionierarbeit leistet, dort wo sie hingehört – inmitten verschiedenster Arten von Aktivismus, in der kulturellen Opposition und an die Peripherie des Interesses. Man redet heutzutage nicht mehr so viel über sie wie früher. In den Medien weiß niemand mehr wirklich etwas darüber. Die Journalisten wissen nicht, wie sie darüber schreiben, die Reporter nicht, wie sie darüber sprechen sollen. Was in den neunziger Jahren Kunst war, ist heute, vom gesellschaftlichen und kulturellen Standpunkt aus gesehen, Alternative und Untergrund. Eine Gesellschaft, die keine Intellektuellen hat oder nicht auf sie hört, ist pragmatisch und konsumorientiert. Sie lässt sich besser beherrschen, sie glaubt an jeden Quatsch, weil sie nur spielt, sie lehnt sich nicht auf. Wer sich auflehnt, bekommt nichts und hat keine Chancen. Diejenigen, die heutzutage in der unabhängigen Kultur tätig sind, können ihrer Sache nicht sicher sein. Sie erwarten nicht viel Geld und auch keinen offiziellen Besuch vom Magistrat. Sie machen sich keine Illusionen, sie wollen keine Dinge schaffen, die für die Ewigkeit sind, und sie wollen auch keine komplizierten Theorien und Konzepte schaffen. Sie haben einfach Spaß. Es bleibt nur zu hoffen, dass nicht irgendeiner daherkommt, der ihnen gute Ratschläge geben will.

Der Autor des Textes hat viele Fehler gemacht, Vergehen und Verbrechen zugelassen. Er fühlt sich schuldig und sucht nach einem Ersatz für sich.

(*) Die Sozialdemokraten waren früher entschieden gegen die bourgeoise und feudale Ordnung.






Kommentar

Der Artikel ist bisher nicht kommentiert worden

Neuen Kommentar einfügen

Empfohlene Artikel

MIKROB MIKROB
There’s 130 kilos of fat, muscles, brain & raw power on the Serbian contemporary art scene, all molded together into a 175-cm tall, 44-year-old body. It’s owner is known by a countless number of different names, including Bamboo, Mexican, Groom, Big Pain in the Ass, but most of all he’s known as MICROBE!… Hero of the losers, fighter for the rights of the dispossessed, folk artist, entertainer…
Meine Karriere in der Poesie oder:  Wie ich gelernt habe, mir keine Sorgen  zu machen und die Institution zu lieben Meine Karriere in der Poesie oder: Wie ich gelernt habe, mir keine Sorgen zu machen und die Institution zu lieben
Der Amerikanische Dichter wurde ins Weiße Haus eingeladet, um seine kontroverse, ausstehlerische Poesie vorzulesen. Geschniegelt und bereit, für sich selber zu handeln, gelangt er zu einer skandalösen Feststellung: dass sich keiner mehr wegen Poesie aufregt, und dass es viel besser ist, eigene Wände oder wenigstens kleinere Mauern zu bauen, statt gegen allgemeine Wänden zu stoßen.
Terminator vs Avatar: Anmerkungen zum Akzelerationismus Terminator vs Avatar: Anmerkungen zum Akzelerationismus
Warum beugt ihr, die politischen Intellektuellen, euch zum Proletariat herab? Aus Mitleid womit? Ich verstehe, dass man euch hasst, wenn man Proletarier ist. Es gibt keinen Grund, euch zu hassen, weil ihr Bürger, Privilegierte mit zarten Händen seid, sondern weil ihr das einzig Wichtige nicht zu sagen wagt: Man kann auch Lust empfinden, wenn man die Ausdünstungen des Kapitals, die Urstoffe des…
Im Rausch des medialen Déjà-vu. Anmerkungen zur Bildnerischen Strategie von Oliver Pietsch Im Rausch des medialen Déjà-vu. Anmerkungen zur Bildnerischen Strategie von Oliver Pietsch
Goff & Rosenthal, Berlin, 18.11. – 30.12.2006 Was eine Droge ist und was nicht, wird gesellschaftlich immer wieder neu verhandelt, ebenso das Verhältnis zu ihr. Mit welcher Droge eine Gesellschaft umgehen kann und mit welcher nicht und wie von ihr filmisch erzählt werden kann, ob als individuelles oder kollektives Erleben oder nur als Verbrechen, demonstriert der in Berlin lebende Videokünstler…
04.02.2020 10:17
Wohin weiter?
offside - vielseitig
S.d.Ch, Einzelgängertum und Randkultur  (Die Generation der 1970 Geborenen)
S.d.Ch, Einzelgängertum und Randkultur (Die Generation der 1970 Geborenen)
Josef Jindrák
Wer ist S.d.Ch? Eine Person mit vielen Interessen, aktiv in diversen Gebieten: In der Literatur, auf der Bühne, in der Musik und mit seinen Comics und Kollagen auch in der bildenden Kunst. In erster Linie aber Dichter und Dramatiker. Sein Charakter und seine Entschlossenheit machen ihn zum Einzelgänger. Sein Werk überschneidet sich nicht mit aktuellen Trends. Immer stellt er seine persönliche…
Weiterlesen …
offside - hanfverse
Die THC-Revue – Verschmähte Vergangenheit
Die THC-Revue – Verschmähte Vergangenheit
Ivan Mečl
Wir sind der fünfte Erdteil! Pítr Dragota und Viki Shock, Genialitätsfragmente (Fragmenty geniality), Mai/Juni 1997 Viki kam eigentlich vorbei, um mir Zeichnungen und Collagen zu zeigen. Nur so zur Ergänzung ließ er mich die im Samizdat (Selbstverlag) entstandene THC-Revue von Ende der Neunzigerjahre durchblättern. Als die mich begeisterte, erschrak er und sagte, dieses Schaffen sei ein…
Weiterlesen …
prize
To hen kai pán (Jindřich Chalupecký Prize Laureate 1998 Jiří Černický)
To hen kai pán (Jindřich Chalupecký Prize Laureate 1998 Jiří Černický)
Weiterlesen …
mütter
Wer hat Angst vorm Muttersein?
Wer hat Angst vorm Muttersein?
Zuzana Štefková
Die Vermehrung von Definitionen des Begriffes „Mutter“ stellt zugleich einen Ort wachsender Unterdrückung wie auch der potenziellen Befreiung dar.1 Carol Stabile Man schrieb das Jahr 2003, im dichten Gesträuch des Waldes bei Kladno (Mittelböhmen) stand am Wegesrand eine Frau im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft. Passanten konnten ein Aufblitzen ihres sich wölbenden Bauchs erblicken,…
Weiterlesen …
Bücher und Medien, die Sie interessieren könnten Zum e-shop
1995, 35.5 x 43 cm (1 Page Only), Pen & Ink Comic
Mehr Informationen ...
450 EUR
478 USD
The volume year contains 7 issues. The magazine is in Czech language and has an English conclusion.
Mehr Informationen ...
11 EUR
12 USD
This catalogue for an exhibition by curator and painter Tomáš Lahoda called "Beauty, thy name is… L. Mot" introduces an...
Mehr Informationen ...
4,83 EUR
5 USD
This artist and editor-in-chieftress of the magazine Bříza (Birch) has come out with a new and original erotic project. It...
Mehr Informationen ...
10 EUR
11 USD

Studio

Divus and its services

Studio Divus designs and develops your ideas for projects, presentations or entire PR packages using all sorts of visual means and media. We offer our clients complete solutions as well as all the individual steps along the way. In our work we bring together the most up-to-date and classic technologies, enabling us to produce a wide range of products. But we do more than just prints and digital projects, ad materials, posters, catalogues, books, the production of screen and space presentations in interiors or exteriors, digital work and image publication on the internet; we also produce digital films—including the editing, sound and 3-D effects—and we use this technology for web pages and for company presentations. We specialize in ...
 

Zitat des Tages Der Herausgeber haftet nicht für psychische und physische Zustände, die nach Lesen des Zitats auftreten können.

Die Begierde hält niemals ihre Versprechen.
KONTAKTE UND INFORMATIONEN FÜR DIE BESUCHER Kontakte Redaktion

DIVUS
NOVÁ PERLA
Kyjov 36-37, 407 47 Krásná Lípa
Čzech Republic


 

GALLERY
perla@divus.cz, +420 222 264 830, +420 606 606 425
open from Wednesday to Sunday between 10am to 6pm
and on appointment.

 

CAFÉ & BOOKSHOP
shop@divus.cz, +420 222 264 830, +420 606 606 425
open from Wednesday to Sunday between 10am to 10pm
and on appointment.

 

STUDO & PRINTING
studio@divus.cz, +420 222 264 830, +420 602 269 888
open from Monday to Friday between 10am to 6pm

 

DIVUS PUBLISHING
Ivan Mečl, ivan@divus.cz, +420 602 269 888

 

UMĚLEC MAGAZINE
Palo Fabuš, umelec@divus.cz

DIVUS LONDON
Arch 8, Resolution Way, Deptford
London SE8 4NT, United Kingdom

news@divus.org.uk, +44 (0) 7526 902 082

 

Open Wednesday to Saturday 12 – 6 pm.

 

DIVUS BERLIN
Potsdamer Str. 161, 10783 Berlin, Deutschland
berlin@divus.cz, +49 (0)151 2908 8150

 

Open Wednesday to Sunday between 1 pm and 7 pm

 

DIVUS WIEN
wien@divus.cz

DIVUS MEXICO CITY
mexico@divus.cz

DIVUS BARCELONA
barcelona@divus.cz
DIVUS MOSCOW & MINSK
alena@divus.cz

 

DIVUS NEWSPAPER IN DIE E-MAIL
Divus We Are Rising National Gallery For You! Go to Kyjov by Krásná Lípa no.37.