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Riga: Life is LifeZeitschrift Umělec 2011/101.01.2011 Alena Boika | in transition | en cs de |
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In der Sowjetunion galt das Baltikum immer als ein sehr besonderes Territorium. Es war das einzige Stückchen Westen im Osten, mit lasterhaftem Geruch und dem Glanz des Kapitalismus – angemessen zurückhaltend zu den Bedingungen des sowjetischen Staates. Was wussten wir damals über diese Länder? Auch heute noch werden die drei Republiken kaum unterschieden. Litauen, Lettland und Estland: Irgendwie erinnert man sich an ihre Hauptstädte, doch werden Städte und wichtige Figuren aus Kultur und Geschichte oft verwechselt. Wodurch zeichnet sich wohl Lettland aus? Durch die unteilbare Wortzusammensetzung Rigaer Küste mit ihrer kalten, durchsichtigen Sonne, den Dünen, den langen Schatten, den viel besungenen Kiefern, das Rigaer Balsam, das Festival in Jurmala – einer Stadt unweit von Riga? Die drei baltischen Staaten waren die ersten, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erklärten, die ersten und bisher einzigen Länder, die in die Europäische Union aufgenommen, oder eher – von ihr verschluckt wurden.
Als ich erfuhr, dass Ivars Gravlejs und Petra Pětiletá nach Riga fahren würden, wurde ich ein wenig traurig, denn es gibt in Prag viele Menschen und manchmal auch einen Regenbogen, doch regenbogenfarbige Menschen gibt es nicht so viele. Ich fragte Petra, wie es ihr dort ergehen würde in dem fernen Land, wo die Leute in einer langsamen, singenden Sprache sprechen und der Himmel bis an den Horizont heranreicht. Und Petra sagte: Ich kann es kaum mehr erwarten. Ich fühle eine so ungewöhnliche Ruhe, dass ich sehr gerne bald dort hinfahren und in das beschauliche Leben in der neuen Welt versinken möchte. Die Ruhe brach so entschieden an, dass sie zeitweise an Apathie und Depression grenzte. Das ganze Umfeld trug dazu bei. Die Leute sprechen nicht viel, lächeln manchmal. Sie nehmen praktische Brecheisen mit, wenn sie morgens aus dem Dorf „zur Arbeit“ in die Stadt gehen: Plünderungen am helllichten Tag – eine gewöhnliche Sache, nicht direkt im Zentrum natürlich, doch ein wenig abseits. Mit einer Fotokamera sollte man lieber nicht unterwegs sein, auf einem mittelguten Mobiltelefon lieber nicht telefonieren, unklare Körperbewegungen und Blicke besser meiden und die Adresse, wo man wohnt, lieber nicht mitteilen – was übrigens sowieso vor nichts schützt. Es genügte, dass Petra, Ivars und die Kameraden aus Tschechien einmal in eine nette, völlig solide Bar gingen, und schon passierte etwas Seltsames. Nachdem sie ein paar Biere getrunken hatten, verschwand Petra plötzlich. Auf Anrufe reagierte sie nicht. Von ihrem Aufenthaltsort erfuhr Ivars erst einige Stunden später, als er Petra unbekümmert im Nirgendwo auflas, ohne dass sie sich darüber bewusst schien, was passiert war. Es war völlig offensichtlich, dass man ihr irgendeine Substanz gegeben hatte, die möglich machte, sie ungehindert in ein Auto zu setzen und weit von der Bar wegzufahren. Kreditkarten, Telefon und Geld hatte Petra schon nicht mehr bei sich. Trotzdem waren sie froh, dass alles so harmlos ausgegangen war. Irgendwie ermüdet vom örtlichen Surrealismus, entschieden Petra und Ivars, eine Einladung auf eine Konferenz anzunehmen und für einige Tage nach Berlin zu fahren. Weil sie ein seltsames Vorgefühl beschlich, kaufte Ivars sogar ein Schloss und hängte es, neu und glänzend, an die heimische Wohnungstür. Doch kann man sich vor dem Surrealismus mit einem Schloss retten? Schon am Tag nach der Abfahrt klingelte Ivars Handy, mitten in der Konferenz. Man teilte ihm mit, dass ihre Wohnung brannte – jetzt in diesem Augenblick – und deshalb die Tür eingebrochen würde. Was kann ein Mensch tun, der sich in Berlin befindet, wenn es bei ihm in Riga brennt? Petra und Ivars dachten nur, wie gut es war, dass sie das Notebook dabei hatten. Nach ihrer Rückkehr entdeckten sie, dass die Nachbarn von unten eine Leiter zur verbrannten Wohnung gestellt hatten und, ohne dies zu verbergen, diese hinauf- und hinuntergingen, um sich das eine oder andere zu holen. Sie sagten, sie würden die Wohnung auf diese Weise bewachen. Mitfühlend brachte ihnen der Hausherr Schenja sogar Schokopralinen. Während er ihm die Hand drückte, starrte Ivars die ganze Zeit auf dessen Schuhe und dachte – hmm, wie meine, sogar die Größe stimmt … Bis er verstand, dass es seine Schuhe waren und er aufhörte, dem Hausherrn die Hand zu drücken. Nun ja, in Ordnung, Sachen kann man wiederbeschaffen. Außerdem gibt es in Riga mehr leerstehende Wohnungen als Menschen. Der Hausherr war froh, ihnen eine andere Wohnung anbieten zu können. Nur gab es dort kein Gas, weshalb sie in eine weitere Wohnung gehen mussten, um zu kochen, und um zu arbeiten, wiederum in eine andere Wohnung, weil es Internet nur in jener dritten gab. Und so wohnten sie dann auch in drei Wohnungen, was ihnen übrigens sehr zugute kam, als es einen feierlichen Anlass für eine grandiose Party gab. Die begann mit einer Foto-Session vor einem schwarzen Cadillac, der Petra zufolge eine notwendige Bedingung für jede lettische Hochzeit ist. In den Lichtblicken zwischen dem Fallen in eine Depression und das durchgebrannte Loch in der Küche beschäftigten sich Petra und Ivars mit Kunst – natürlich, womit denn sonst – dem besten Opium fürs Volk. Sie begannen wie immer mit gemeinnützigen Arbeiten. Als sie riesige weiße, leere Werbeflächen entdecken, auf denen „Platz für Ihre Reklame“ war, konnten sie nicht gleichgültig bleiben. Aus Angst vor dem allgegenwärtigen Gefühl der Erstarrung zogen sie sich zitronengelbe Westen von Straßenarbeitern über und „verbesserten“ eine der Flächen, indem sie mit großen Buchstaben darauf schrieben: „Life Is Life“. Wie Petra später erklärte, war das eine Art Trost für alle Lesenden, ein munterer Aufruf des bekannten Lieds und Proklamation des Absurden – niemanden kümmerte es, was wo geschrieben stand, und so trägt die Werbefläche bis zum heutigen Tag diese energische Lebensbestätigung. Eine andere Umgestaltung lief genauso glatt, doch blieb sie nicht lange unbeachtet und unberührt. Die riesigen Buchstaben an der Einfahrt in die Stadt, die Riga ankündigen, besagten für einige Zeit schamlos „Píča“, was auf Tschechisch „Fotze“ heißt. Ihre Einmischung in den Lebensraum Rigas hörte danach nicht auf, sondern nahm einen bezeichnend demonstrativen Charakter an. So wurde eine minimalistische Ausstellung mit dem Titel Was ist tschechische Kunst? aus Prag gebracht. Jedem der über vierzig teilnehmenden Künstler wurde ein Gegenstand abgenommen, den man in einer Tasche oder einem Koffer transportieren oder an Ort und Stelle nach Anleitung aufbauen konnte. Die Besucher verstanden nicht alles, doch reagierten sie freudig auf die Ausstellung. Der Aufenthalt endete mit der Einsicht, dass man Beautiful Time besser nur von Zeit zu Zeit genießen sollte, indem man sich der örtlichen Zwangsbeschaulichkeit und der überall durchsickernden Depression nur in kurzen Intervallen aussetzt. Dann klingt der Slogan „Life Is Life“ nicht mehr so tragisch. Aus dem Russischen von Helena Maier.
01.01.2011
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