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Gegenwartskunst gibt es nicht
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2011, 2
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Gegenwartskunst gibt es nicht

Zeitschrift Umělec 2011/2

01.02.2011

Palo Fabuš | kontemporartismus | en cs de

Es gibt keine einfachen Fragen. Nicht nur, dass es keine Frage gibt, in der nicht bereits der Ansatz ihrer Antwort verborgen wäre, es gibt auch keine Frage, die nicht weitere Fragen aufwerfen würde. Ein Kollektiv aus Theoretikern, Künstlern, Kuratoren und Kunsthistorikern hat sich eine scheinbar einfache Frage gestellt: Was ist gegenwärtige Kunst? Die Essays (hier auch im wörtlichen Sinne als „Versuche“ zu verstehen) der einzelnen Autoren, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, sind unlängst als Buch im Rahmen der Serie e-flux journal mit dem Untertitel What is Contemporary Art? erschienen.
Wie wir von Marcel Broodthaers wissen, handelt es sich laut Duchamp bei dem Autoren einer Definition von Kunst in erster Linie um den Künstler selbst. Jedes Kunstwerk ist ein Diskussionsbeitrag, eine Bestätigung oder Widerlegung der zeitgenössischen Vorstellungen. Die Aufgabe von Kuratoren und Galeristen ist es, subjektiv ausgewählten Künstlern die Möglichkeit zu geben, sich zu „äußern“, die Aufgabe von Kritikern hingegen, diese Kunst auf sprachlicher Ebene mit ihrer Interpretation symbolisch neu zu erschaffen. Kunst ist unter anderem allerdings auch Gegenstand öffentlichen Interesses sowie Katalysator der subjektiven Gestaltung der Beziehung zwischen Künstler und Außenwelt. Daher ist es nicht weniger bedeutsam, über Kunst zu sprechen, zu hören, zu schreiben oder zu lesen, und das ungeachtet der Tatsache, dass das Sprechen über Kunst nie mehr sein wird als der Schatten des Unaussprechlichen, wie es der in der erwähnten Publikation mehrfach zitierte Giorgio Agamben formulierte.


Was ist gegenwärtig?

Noch bevor wir unsere Frage aussprechen, tauchen gleich mehrere Unterfragen auf: Was heißt gegenwärtig? Was ist überhaupt die Gegenwart? Das letzte Jahr, das letzte Jahrzehnt? Ist es die Zeit, die seit dem letzten großen -ismus, der letzten Bewegung oder Schule vergangen ist, also die Zeit einer zur Ikone gewordenen Einzelperson, die den Ton der Zeit in der Kunstwelt selbst redefiniert hat? Ist es die durch den (Über-)Gebrauch von Hirsts Hai in der populären Presse eingeschränkte Zeit (eine auch für Laien erkennbare Ikone und Maßstab der gegenwärtigen Kunst)? Oder bissiger: Ist es die Zeit, in die Hirst nicht mehr hineinpasst?
Neben der veraltet erscheinenden Net Art kann Duchamp immer noch als der Gegenwart würdig bezeichnet werden. Was die Gegenwart ist, geht aus den von uns gestellten Fragen hervor, stimmen die Mitglieder des Raqs Media Collective überein, die Autoren einer der Beiträge. Falls unser Ausgangspunkt allgemein ist, wäre die Rechtfertigung dieser oder jener Wahl, ohne dabei in Details abzuschweifen, äußerst schwierig.
Was jedoch zuverlässig bestimmt werden kann, ist die weit über die Kunstwelt hinausgehende Unsicherheit und Verlangsamung. Nach der gegenwärtigen Kunst zu fragen, heißt nicht zwangsläufig, nach der gesamten Welt der Kunst zu fragen, auch wenn es sich nach Dieter Roelstraete tatsächlich so verhält. Ihm zufolge sind die Fragen danach, was gegenwärtige Kunst und was Kunst allgemein ist, miteinander identisch. Die erste Frage betont nämlich die Gegenwart, d. h., sie fragt, was an der heutigen Kunst gegenwärtig ist und was nicht, wobei sie ausdrücklich nicht die Frage stellt, was an der heutigen Kunst künstlerisch sei. Die gegenwärtige Kunst ist dem Autor zufolge nur Teil eines weiten Kulturfelds, was bei der eigentlichen Kunst nicht der Fall ist. Die gegenwärtige Kunst als Inkorporierung der (bloßen) Kultur sei notwendiger Gegenstand einer kritischen Ablehnung.
Das Problem, die Grenze der Gegenwart zu bestimmen, geht vielleicht aus dem veränderten Charakter der Gegenwart selbst hervor. Boris Groys vermutet, dass die Gegenwart heute zum Ort eines ständigen Umschreibens der Geschichte und der Visionen der Zukunft geworden ist, im Gegensatz zur Moderne, die eine schmale Pforte zwischen der Vergangenheit und der Zukunft darstellte. Wir befinden uns in einer sich ständig reproduzierenden Gegenwart, die nicht mehr in der Zukunft mündet. Nicht weniger interessant ist seine Betrachtung des Phänomens der vergeudeten Zeit als Verlust der unendlichen historischen Perspektive. Das Heute erleben wir als ein ständiges Aufschieben und eine Langeweile, die Heideggers Ontologie zufolge eine notwendige Voraussetzung für die Wahrnehmung der Präsenz der Gegenwart darstellt.

Warum bedeutet uns diese Frage so viel?

Die von Groys angesprochene Langeweile ist ein Schlüssel zur Haltung gegenüber der heutigen Gegenwart. In der Gesellschaft des Spektakels und seiner nicht weniger spektakulären Ablehnung wird die Langeweile grundsätzlich ostrakisiert. Die Bezichtigung der Langweiligkeit ist eine ernsthafte Unterstellung. Nicht, dass Langeweile seit jeher etwas gewesen wäre, was es nicht zu vertreiben gehörte. Darüber hinaus lässt sich mit Recht vermuten, dass die Langeweile als historisch-kulturelles Konzept erst auftauchte bzw. an besonderer Bedeutung gewann, als sich ein Industriezweig etablierte, der gegen sie ankämpfen sollte – die Unterhaltungsindustrie. Aber in einer Kultur, in der Singularitäten in Folge einer effizienten, sowie Zeit und Raum eliminierenden, explodierenden Kommunikation sofort absorbiert und veralltäglicht werden, steht die Vertreibung der Langeweile auf dem Tagesprogramm und scheint mit ihrer Dringlichkeit die untersten Stufen der Maslowschen Bedürfnispyramide zu erklimmen. Es ist wie mit der Jagd auf den eigenen Schwanz. In diesem linearen Schnitt durch das Heute ist die Besessenheit von der Gegenwart und der Gleichzeitigkeit nur ein immer schnelleres auf der Stelle Treten. In Bezug auf die Welt der Kunst fragt Groys mit Wittgenstein, ob diese Besessenheit nicht bloß eine professionelle Deformierung sei.
Aber auch hier muss die Welt der Kunst bei Weitem keine Ausnahme sein. Hat sich die Geschichtlichkeit nicht dermaßen in unserem Denken festgesetzt, dass sie nicht nur ein bloßer Aspekt der ausgewählten Modi Operandi darstellt, sondern den eigentlichen Modus Vivendi durchdringt? Sind wir noch in der Lage zu entdecken, ohne dabei durch die Sortierung nach neu und alt eine zweifelhafte Bewertung vorzunehmen?
Friedrich Nietzsche, der Philosoph mit dem Hammer, zerstörte die alte Vorstellung, dass die Ethik lediglich von einer Art vorethischer metaphysischer Wahrheit abgeleitet werden könne, als er die historischen Befürworter dieser Ansicht von Sokrates bis zu seinen eigenen Zeitgenossen bezichtigte, dass ihre Metaphysiken nichts anderes seien als ihr eigenes, hinter einer Maske der Gegebenheit und Unumgänglichkeit verborgenes, moralisches Weltbild.
An diese historisch grundlegende Infragestellung der Gedanken der ersten Philosophie, die seit Aristoteles als die Metaphysik gilt, knüpft Emmanuel Lévinas an und schreibt das Primat der Ethik zu. Genau wie er sieht die britische Philosophin und Schriftstellerin Iris Murdoch in jeder noch so neutralen Behauptung eine stets präsente, wenn auch verheimlichte „Vision der Welt“.
Obwohl der Aspekt der Neuheit oder Originalität als emergente Eigenschaft der Beziehung zur Welt, die nicht nur der Kunst, sondern auch der Wissenschaft und Philosophie zueigen ist, in der letzten Zeit häufig und auf verschiedene Weisen angezweifelt wird (Isabelle Stengers stuft beispielsweise die Relevanz höher ein als die Neuheit), dauert er in der Bewertung, d. h. auch im Verzicht auf eine explizite Bewertung, fort. Das Fragezeichen der Neuheit hängt daher als historische Kategorie in einer überhistorisierten Gesellschaft über allem, was sich in den Bereich der Kultur und ihr sogenanntes axiologisches, also bewertendes Verständnis einordnen lässt. Die Ablehnung der Neuheit als ontologische Perspektive bietet eine nicht weniger interessante spekulative Ansicht, in der die Penetranz der Neuheit als eine lediglich affektive Trägheit der kulturellen Simulacra zurückgewiesen wird: Die heutige Gesellschaft wäre somit als eine ständig aktualisierte Homöostase konzipiert. Mit anderen Worten, neben einer sich entwickelnden Gesellschaft ist auch eine überdauernde Gesellschaft denkbar.
Der Imperativ der Gleichzeitigkeit kann heute an vielen Orten ausgemacht werden. In der Spannung zwischen dem Streben nach „Übersicht“ und seiner Unstillbarkeit, zwischen dem Streben, die Welt zu verstehen und dem Gleiten, mit dem eben jene Welt verschwindet, von der wir bereits dachten, sie zu verstehen. Eine Antwort aus der Umfrage, die von Hal Foster, Herausgeber der Zeitschrift October, durchgeführt wurde, sowie einer der Beiträge aus dem Sammelband betonen, dass Dissertationen über zeitgenössische Künstler, die einst gänzlich abgelehnt wurden, im Vergleich zu Themen aus dem Bereich der historischen Kunst heute klar überwiegen. Denselben Trend verzeichnen auch die Historiker, die zuvor die Untersuchung der Neuesten Geschichte als bloßen Journalismus ablehnten.


Warum ist die Frage falsch gestellt?

Die Frage als solche stellt sich der eigentliche Diskurs der Kunstwelt. Er geht aus ihr hervor und will auch wieder, als eine Art Prävention vor tatsächlichen Neuerungen, zu ihr zurückkehren. Da die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zumeist als mehr oder weniger chronologisches Aufeinanderfolgen von -ismen, Schulen und Bewegungen verstanden wird, erwartet man am jetzigen Ende der Zeit einen weiteren rhythmischen Schlag. Dass offensichtlich jedoch keine weitere Runde des Generationenkonflikts, des künstlerischen Vatermords eingeleitet wird, klingt im Lauf der künstlerischen Routine wie ein ausgelassener Beat.
„Egal, was man tut, es scheint uns immer schon vertraut zu sein“, sagt Carol Yinghua Lu, deren Beobachtungen über die gegenwärtige chinesische Kunst bestätigen, dass die grundlegenden Konturen der Kunstwelt bereits bedingungslos universell sind. Die Obsession von jungen Anfängertalenten ist keine lokale Ausnahme. Es drängt sich die Frage auf, wie lange die Kultur als überlastete Such- und Ernennungsmaschine, als Maschine für das Zusammenschweißen von Ursache und Folge, funktionieren kann. Aber seien wir ehrlich: Ist ein Künstler heute noch in der Lage zu schaffen, ohne dass sein Bewusstsein bereits mit dem von der Historisierung besessenen Diskurs vergiftet worden ist, und ohne dass er bereits während des Schaffens seiner Erstlingswerke eine zukünftige Publikation mit Beispielen seiner Erstlingswerke vor Augen hätte? Ist er noch in der Lage, genauer gesagt, ist es ihm noch erlaubt, tatsächlich gar nicht zu ahnen, was er da tut? Kann ein Künstler heutzutage kein Fangarm des Diskurses sein?
Mit Recht lässt sich vermuten, dass die historische Analyse der Situation durch die fatale Informationsüberlastung verkompliziert wird. Diesen Gedanken teilt auch Jörg Heiser, der anmerkt, dass ‑ismen wie Pop-Art, Minimalismus oder Konzeptualismus unter den Bedingungen eines produktiven Mangels an Informationen entstanden sind, die dem jeweiligen stilistischen Antagonismus, beispielsweise durch das Abschleifen der Kanten oder die Beleuchtung der inneren Widersprüche, verständlicherweise nur Energie geraubt hätten. „Es ist unmöglich geworden, dieselben produktiven Fehler zu wiederholen“.1 Der letzte imaginäre Tropfen ist die Einstellung, die Kultur als Gebiet (eines der vielen im alltäglichen Leben) wahrzunehmen, das geradezu nach Berichterstattung im journalistischen Sinne ruft. Diese Haltung – am spürbarsten verkörpert durch das Internet – ist Ausdruck und Stärke der Anziehungskräfte, die die Grenzen zwischen der Gleichzeitigkeit von Neuigkeiten und ihrer eigenen Neuheit genauso verschwimmen lassen, wie die zeitgenössische Unfähigkeit, echte und falsche Vielfalt unterscheiden zu können (z. B. beim Genre der sogenannten Weltmusik). Ein Indiz spricht dafür, dass dort, wo die Frage nach der gegenwärtigen Kunst am hartnäckigsten gestellt wird – auch wenn sie nicht einmal explizit formuliert wurde – die Chance auf eine Antwort am geringsten zu sein scheint.
Im offensichtlich besten Text der gesamten Antologie (abgedruckt an anderer Stelle in dieser Ausgabe) beruft sich Dieter Roelstraete auf Alain Badiou und seinen Gedanken der doppelten Feindseligkeit gegenüber den Wahrheitsprozeduren, d. h. über die Verdeckung mit dem ursprünglichen Namen sowie dem aus der dominanten Praxis hervorgehenden Begriff. Eine der Prozeduren ist ursprünglich verdeckt durch ihren Namen – Liebe – und diese wiederum durch das Wort Sex. Dasselbe Verhältnis herrscht zwischen den Begriffspaaren Wissenschaft–Technologie, Politik–Management und Kunst–Kultur. Dies ist, wie gesagt, auf die Bewegung und die Selbsterhaltung des Diskurses zurückzuführen. Die Kunst ist Roelstrate zufolge darauf fokussiert, eine Beziehung zum Kultursystem zu finden. Mit Hilfe dieser eindimensionalen Beziehung zum Kulturkomplex, der eine reine Affirmation darstellt, ist die Kunst zu einer affirmativen Kraft an sich geworden, was sie heute durch die Betonung der Gleichzeitigkeit unterstreicht. Zeitgenössische Kunst ist nicht nur die gegenwärtig entstehende Kunst, also die gegenwärtige Kunst; in ihrem Streben, die Gegenwart zu kondensieren, sie zu infiltrieren und zu formen (dies erreicht die Kunst, indem sie den Zustand geradezu tabuisiert, dass der Status der Kunst nur bestimmten Formen oder Praxen vorbehalten wäre), erreicht darüber hinaus die Überzeugung, dass „alles Kunst sein kann“, völlig andere Qualitäten. Mit anderen Worten: Die resoluten Behauptungen, dass etwas keine Kunst sein könne, sind gänzlich verschwunden. Die tatsächlich kritische Frage lautet daher nicht, was gegenwärtige Kunst ist, sondern was nicht. Hegels Behauptung, dass Kunst eine Sache der Vergangenheit sei, die im vergangenen Jahrhundert von Arthur Dante als stets vor uns liegende Hoffnung reproduziert wurde, führt Roelstrate zu seiner Behauptung, dass Kunst eine Sache der Vergangenheit und Zukunft sei und dass die gegenwärtige Kunst sich nur mit dem Etikett Kunst schmücke, obwohl sie tatsächlich Kultur sein will. Roelstraete versteht die gegenwärtige Kunst als Interregnum zwischen der in der Vergangenheit verschwundenen Kunst und ihrer Rückkehr in der Zukunft. Gegenwärtige Kunst gibt es nicht.
In After the Historiographic Turn: Current Findings, einem seiner älteren Texte, überlegt Roelstraete, ob die heutige mutmaßliche Unverständlichkeit des künstlerischen Schaffens einerseits eine erwünschte Qualität sein könnte, die von Natur aus dem intellektuellen Komfort einer klaren Benennung sowie der unersättlichen institutionellen Maschinerie trotzt.2 Andererseits könnte es sich aber auch um den Alibismus einer faulen Denkweise, eine geistige Paralyse und fehlenden Mut handeln. Dies erinnert auffällig an Adornos siebzig Jahre alte Analyse des kulturellen Monopols: „Es liegt an der feinsten Differenz, ob die Liquidation des ästhetischen Knotens, der Durchführung, des Konflikts die Liquidation des letzten Widerstands bedeutet oder das Medium von dessen geheimer Allgegenwart.“3 Zwischen der Tendenz, Kunst einerseits überall und andererseits nirgends entdecken zu können, steht nur noch eine sehr dünne Barriere, die den Paradigmenwechseln zueigen sein scheint. Falls wir heute für etwas Mut benötigen, dann für die Bereitschaft, sich die unermessliche Illusion des normalen Kulturbetriebs einzugestehen, die unbewusst voraussetzt, dass es Kunst immer gegeben hat und geben wird, dass Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt und Generation für Generation bedeutende Kunst entsteht. Sich einzugestehen, dass Kunst keine historische Konstante ist, dass es sie – wie Roelstraete andeutet – gar nicht geben muss, obwohl das System systematisch das Gegenteil behauptet.

1 What is Contemporary Art?, S. 93.
2 S. e-flux #6, Mai 2009.
3 Adorno, Theodor W.: Schema der Massenkultur. In: Gesammelte Schriften Bd. 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981.
e-flux journal. What is Contemporary Art? Berlin: Sternberg Press, 2010. 216 Seiten.


Aus dem Tschechischen von Filip Jirouš.





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