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Der satte Süden
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2005, 2
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Der satte Süden

Zeitschrift Umělec 2005/2

01.02.2005

Anke Humpeneder-Graf | studie | en cs de

Die Pleite tut der Szene gut. Seit die Rezession auch in München angekommen ist, müssen junge Künstler nicht mehr nach Berlin, um sich bezahlbare Arbeitsbedingungen leisten zu können. Auch in Süddeutschland stehen inzwischen Räume leer, Ateliers werden billiger, und die Voraussetzungen für eine Kunstszene jenseits der institutionalisierten sind besser geworden. Neben den großen Museumshäusern und den etablierten Galerien entwickeln sich off- space Keimzellen einer nicht gesteuerten Subkultur, Netzwerke aus jungen Künstlern, die die strengen Grenzen zwischen den Disziplinen einzureißen beginnen und zu denen auch eine vitale Clubszene mit Musik- und Performancegruppen gehört.

Keimzelle der Veränderung war die Münchener Akademie. Vermufft und selbstzufrieden wie die Stadt selbst, waren ihr seit den sechziger Jahren keine nennenswerten Strömungen mehr entwachsen. Unter dem Rektorat von Ben Willikens begann sie sich Anfang der 1990er Jahre für neue Ideen zu öffnen und einen internationalen Fokus zu entwickeln. Ein Generationswechsel in der Professorenschaft brachte Olaf Metzel, Günther Förg, Markus Oehlen und die Theoretiker Walter Grasskamp und Florian Matzner an die Akademie, die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) startete interdisziplinäre Vorlesungsreihen wie „iconic turn“, am Haus der Kunst begann Christoph Vitali, Ausstellungen mit jungen, lokalen Künstlern zu machen („Scharf im Schauen“, 1994), und immer mehr Galerien nahmen das Risiko auf sich, junge Künstler auszustellen, noch ehe sie bekannt waren.

Dennoch, das Umfeld ist das Tradierte: Der Süden Deutschlands ist immer noch verhältnismäßig reich, die Bevölkerungs-strukturen sind homogen und das städtische Kunstpublikum reichlich saturiert. Auch die Künstler selbst sind in diesen Strukturen aufgewachsen: Es handelt sich bei ihnen keinesfalls um angry young guys, die aus innerem Bedürfnis und mit hoher Aggression Dinge erkämpfen wollen. Eher spielerisch, mit kritischer Reserviertheit und ironischer Distanz formen sie ihre Anliegen aus – mit dem Erfahrungshintergrund des gediegenen Oberschülers: Dass der Ton die Musik macht. Dass also die Form eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob der Inhalt nicht nur verstanden, sondern überhaupt erst gehört wird.

Obwohl Berlin nach wie vor der erste und entscheidende Orientierungsort nach und zum Teil auch während des Studiums ist, betrachten die jungen Künstler selbst ihre Anfänge im ruhigen Süddeutschland, abseits der überhitzten Berliner Kunstszene, apositiv für ihre Arbeit: Hier ist ein kontinuierliches Arbeiten möglich, ein ungestörter Blick in die Tiefe der Dinge, mit denen man sich auf dem Land auseinandersetzen muss. Weil die Ablenkung fehlt und mit ihr die Möglichkeiten, die inneren Bilder auf andere Weise loszuwerden.

Gediegene Oberschüler

Michael Sailstorfer verarbeitet seine Kindheit in der niederbayerischen Einöde und den Zwang zur Mobilität, den er täglich auf sich nahm, wenn er mit dem Schulbus von Velden nach Vilsbiburg ins Gymnasium und wieder zurück fuhr.
Für „Wohnen mit Verkehrsanbindung“ richtete der Akademiestudent vier Buswartehäuschen an einer Landstraße, die sich über die Hügel irgendwo zwischen Niederbayern und Oberbayern schlängelt, wohnlich ein. Er gab den zugigen Unterständen Tür und Fenster, sorgte für Strom und Wasser, Licht und Toilette, und stellte Tisch und Stühle hinein.
Die Erfahrung einer Existenz zwischen daheim und unterwegs manifestiert sich auch in seiner Arbeit „Heimatlied“: Aus vier alten Wohnmobilen baute Sailstorfer ein metallenes Haus, in dem sich ebenfalls eine funktionsfähige Einrichtung befindet. Das zusammengeschraubte Gebäude referiert mit Giebeldach und rechten Winkeln als immobile Konstruktion auf ein ortsfixiertes Dasein der, einst für das Leben auf der Straße hergestellten Wohn-Mobile.
Somit können seine Eingriffe auch als Versuch einer Synthese der Lebenswelten gelesen werden. Es sind Umdeutungen, die von den Dingen erzählen, aber auch vom Leben selbst. Folie dieser Erzählungen ist das mit Vergangenheit aufgeladene Ausgangsmaterial - der mit technischem Witz gebastelte Raum ist ihr Resonanzkörper.
Weil er nicht genuin Neues schafft, sondern Vorhandenes umformuliert, hilft Sailstorfer, Materie zu erhalten in einer Zeit, in der Ausgedientes schnell entsorgt wird. Indem er die ausrangierten Dinge zusammenschrumpft in kleinere, dauerhafte Einheiten, gelingt es ihm aber auch, Erinnerungen zu retten. Aus dem Abbruchmaterial eines Hauses in der Münchener Herterichstraße 119 baute Sailstorfer ein Sofa, das er in Design und Farbigkeit als Portrait dieses Hauses verstand. Die Fotografie des einstigen Gebäudes hängt gerahmt über dem Möbel an der Wand. Ausgangs- und Zielobjekt verbinden sich dabei zu einer dialogischen Einheit.
Etwas radikaler war Sailstorfers Arbeit Drei Ster mit Ausblick. Zusammen mit Jürgen Heinert verfeuerte er ein Holzhaus auf einem Feld durch den Ofen in seinem eigenen Inneren. Bereits der Titel reduziert die Hütte – und damit das Wohnen selbst – auf den Brennwert ihres Materials. Die Arbeit blieb singulär in der Vita des jungen Künstlers; die Transformation in nichts als Rauch war ihm vielleicht zu destruktiv, das Ergebnis nicht handfest genug: Am Ende der Aktion, die einen ganzen Tag lang dauerte, blieb – mit Ausnahme des glühenden Ofens – nichts auf dem leeren Feld seiner Kindheit zurück.

Auch Andrea Hanaks Arbeit reflektiert die Bilder und Orte ihrer Vergangenheit. Mit Tagebuchskizzen und nachlässigen Aquarellen einer düsteren Märchenwelt greift sie aber auch tief hinein in den Fundus unserer kollektiven Erinnerungen. Ihre Rauminstallation Innenwelt, Außenwelt zeugt von pubertärem Weltschmerz und Unverstandensein, von der Erkenntnis im Erwachsenwerden, dass die Kindheit vielleicht nicht so heil war, wie einem glauben gemacht worden ist. Auf vergilbendem Computerpapier pinnen zarte Zeichnungen von Lilienblüten und verbale Eruptionen an der mit Schrankpapier tapezierten Wand. Das Happy End der Kindermärchen kollidiert zunehmend mit einer nach vorne offenen Realität. Wie im Nebel taucht in der Bildwelt Hanaks Märchenhaftes auf: Düstere, verblichene, braune Farbigkeit, eine deutsche Schwere. Kürzel aus einer mythischen Welt voller Andeutungen und Verweise, in der das Unheimliche nur einen Kratzer unter der Oberfläche gewusst wird.
Kennzeichnend ist die Ambivalenz von Schönheit und ihrer Zerbrechlichkeit, von heiler Welt und dem darin lauernden Grauen, die Ambivalenz jener Angstlust, von der schon Novalis sprach, als er auf die „innige Verwandtschaft“ von „Wollust“ und „Grausamkeit“ hinwies. Andrea Hanak wuchs in Wolfratshausen unweit des Starnberger Sees auf, einem Ort, der von Sommerwiesenduft und seinem Kinder-Märchenpark ebenso geprägt sein dürfte wie vom Schatten der nächtlichen Mondscheintat des Bayernkönigs Ludwig II, den der Wahnsinn für immer in die schwarzen Tiefen des Gewässers rief.
Die Motivwelt ihrer Aquarelle weiß um die Tradition der schwarzen Romantik, die am Ende des 18. Jahrhunderts den Nachtseiten der menschlichen Seele nachgegangen ist. Zwar formuliert Hanak ihre bedrohlichen Geheimnisse nicht aus, doch bestimmen sie den düsteren Teil ihrer Bildsprache, dem eine formale Leichtigkeit, ja Transparenz gegenübersteht.

Mit Abendmahl, Speisung der Zehntausend und Box von Jericho speist auch Benjamin Bergmann seine Titel aus den Quellen Mythos und Religion. Die Religion bietet Schlagworte, mit denen sich sogleich etwas verbindet – vergleichbar heute nur noch mit den omnipräsenten Slogans der Werbung. Für seine Installation Abendmahl zerlegte er einen alten Schrank und baute daraus eine hölzerne Nische mit Vorhang und Fenster, zwei Stühlen, gedämpfter Beleuchtung und einem Tisch. Der religiöse Aspekt wird sogleich deutlich, weil die Skulptur – auch in ihrer feierlichen Außenform – an einen Beichtstuhl erinnert. Der Titel Abendmahl ergibt sich aus einem Tisch und zwei Plastiktellern.
Zwei Bohrmaschinen können die Teller in Rotation versetzen, bleiben in dieser Arbeit aber ausgeschaltet – die Bewegung ist nur als Möglichkeit in der Skulptur enthalten. Doch sie referiert auf frühere Arbeiten Bergmanns, seine „Speisung der Zehntausend“ und das „Fast-Food-Restaurant“, die gleich mehrere seiner Hauptthemen wie Überfluss und Beschleunigung, drastisch thematisierten und Essbares durch den Raum oder gegen die Schutzverglasung der Installation schleuderten.
Das Performative in seine Arbeit zu integrieren, ist eines seiner Anliegen. Mehr und mehr reicht ihm aber auch die bloße Vorstellung davon: Der Besucher kann in seiner eigenen Phantasie das Werk vollenden.
In der Arbeit „Und irgendwann will ich es wissen“ etwa, für die Bergmann einen hölzernen Achterbahn-Parcours baute, an dessen oberem Ende ein Fahrrad den Betrachter zur – gedanklichen – Probefahrt einlädt. Nach steiler Abfahrt und scharfer Kurve endet die Fahrt in einer engen Schleife, die nicht fahrbar ist. Ein Netz und ein großes Lager aus Pappkartons fangen die gedankliche Bruchlandung des Rezipienten auf. „Immer schneller, immer mehr, das ist symptomatisch heute. Wir bewegen uns auf etwas zu, ohne zu wissen, auf was“, meint Bergmann, der in Würzburg aufgewachsen ist. Darum spannt sich sein Themenfeld zwischen Geschwindigkeit und Beschleunigung, zwischen Sensation und Spektakel auf – in Bayern, dem Bundesland von High Tech und BMW, von jeher Synonym für besonders sportliches Fahren: „Ich wollte eine Beschleunigung, die sich tot fährt“.
Er formuliert für sich selbst Momente der Gefahr und erlaubt dem Publikum, sich mit Risiken auseinander zu setzen und Ängste abzuarbeiten. „Die Menschen werden immer schneller, aber sie verändern sich nicht wirklich: In Autos sterben wir immer noch, und Kriege werden immer noch im Namen Gottes geführt.“
Ob der Betrachter die Gefahr bedrohlich vor sich sieht, wenn eine Rasenmäherklinge mit hoher Geschwindigkeit vor seinem Kopf rotiert (Stallung), ob er sie an einer konkreten Installation gedanklich detailliert nachvollziehen kann (Und irgendwann will ich es wissen) oder lediglich anhand der Entwurfskizze einer Looping-Bahn auf dem Watzmann (Grand Centrifugal Railway), stellt dabei nur einen graduellen Unterschied dar.

Nimmt Bergmann seine Ideengeber aus der täglichen banalen Umgebung von Kleinbürgertum und Technikverliebtheit, so kratzt Martin Wöhrl an bayerischem Selbstverständnis, zwischen dessen oberem und unterem Ende er seinen Asam-Block entrollt. Sein überdimensionierter rosa Zapfen aus grobgesägtem Styropor setzt sich beinahe liebevoll-ironisch mit bayerisch-barockem Katholizismus auseinander, zitiert Kulturgeschichte zwischen den Rokoko-Stukkaturen der berühmten Bildhauerfamilie Asam und der bayerischen Biertradition. Der weit über Bayern hinaus bekannte “Asam Bock“ ist ein besonders starkes, dunkles Bier, das in der ältesten Klosterbrauerei der Welt, der Klosterbrauerei Weltenburg, gebraut wird. Ebendort ist mit der Klosterkirche eine der bedeutendsten künstlerischen Schöpfungen der Asam-Familie zu besichtigen. So mag das Zusammenbringen von Kunst und Bier nicht nur beispielhaft für die Durchdringung von Hoch- und Volkskultur, sondern auch für die Sinnenfreude des gelebten Katholizismus, die enge Verbindung von Kirche und Wirtshaus, von Religion und Leben, stehen.
Wöhrl greift in seiner Arbeit schon länger auf vorformulierte kulturelle Codes zurück, inszeniert Kulturgüter seiner Umgebung neu, indem er ihnen andere Materialien, Oberflächen und Formate gibt. Der Zapfen aus leichtem Styropor wirkt wie mit der Kettensäge bearbeitet. Dennoch ist das zartrosa Ding kaum weniger ein Fake als die gipserne Stuckornamentik der Asams, die im 18. Jahrhundert den illusionistischen Schein auf oft nur pappdeckeldünnen Verblendungen in die Kirchen einzog.
Der Verweischarakter des Asam-Blocks greift so weit, wie die Arbeit einfach ist. Im innigen Zusammenspiel von dem aus billigem, leichtem und simplem Material hergestellten Zapfen und seinem Titel tun sich komplexe Referenzwelten auf. Wöhrl verdichtet eine ganze Reihe von Aspekten der Geschichte, Kultur und Lebensart seines Landstrichs in einem postmodernen Verweiskonglomerat, das sich in diesem rosa Zapfen zusammenballt.

Florian Süssmayr, Münchener seit Geburt, hat diesen Schritt nie vollzogen. Als Außenseiter in der Kunst, der nie an der Akademie war, malt er seine Bilder direkt aus der urbanen Unkultur zwischen Fußballplatz, Punkmusik und Bierkneipe. Süssmayr war Kameramann, daher sein Blick für Bilder. Er selbst versteht sich als Sammler von Zeichen und Hinterlassenschaften des Menschlichen: In Biertische geritzte Inschriften, anonyme Botschaften an den Wänden öffentlicher Toiletten und Bahnhofsunterführungen. Zeichen von Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit, vom täglichen Unglück und von billigem Schnaps. Süssmayr zerrt am Deckmantel der heilen Welt und der Wohlanständigkeit, mit dem sich seine Landsleute so gerne brüsten. Er deckt die kleinen Wahrheiten auf und bringt sie hinein ins Licht der Galerien und der saturierten Kunstwelt. Dennoch: Was er macht, sind lediglich Ausschnitte und räumliche Verlagerungen existierender, realer Bilder – ihre radikale Dekontextualisierung. Hey, ihr Arschlöcher, Scheisse, Alter, dicker Keiler sucht…, Möchte täglich gespritzt werden… findet sich nun an den Wänden der Galerie. Dafür nimmt er seine Motive entweder als Frottagen vom Original direkt ab oder er malt – über den Umweg der Fotografie – Hinterglas-, Leinwand-, oder Hartfaserbilder.
Süssmayr dokumentiert sein eigenes Leben und leistet zugleich eine Art Bestandsaufnahme eines Bayern von unten, jenseits von Bilderbuchbayern, vergleichbar am ehesten noch mit den schnellen und ungeschönten Fotografien Nan Goldins. Seine Titel ermöglichen, beinahe protokollarisch, ein exaktes Zuordnen des jeweiligen Ausschnittes: Dokumente, fest verortet in Raum und Zeit, in ihrer Summe und Authentizität, Spiegel Münchener Gegenwart (Hofbräuhaus, 15. 1. – 26. 2. 2003).

Bei aller Verschiedenheit in Formulierung und Arbeitsweise sind es im Grund die gleichen Dinge, die die jungen Künstler im Süden Deutschlands umtreiben. Aus welchem Umfeld – ländlich oder urban, Sub- oder Hochkultur – ihre Themen auch kommen, wie viel Ironie oder Ernsthaftigkeit ihrer Sprache auch innewohnt: gemein ist ihnen eine grundlegende Skepsis der vollständigen Saturiertheit gegenüber, mit der Staat und Wirtschaft unisono das bayerische Selbstbild „mit Laptop und Lederhose“ ausrufen und den Fortschrittsglauben als oberstes Gebot dem Dekalog voranstellen.
Solche Slogans in Frage zu stellen wie Benjamin Bergmann und Michael Sailstorfer oder zumindest zu ironisieren wie Martin Wöhrl, eigene Ängste und Unsicherheiten zu formulieren wie Andrea Hanak und die andere, versteckte Wirklichkeit dagegenzuhalten wie Florian Süssmayr sind die Reaktionen einer neuen und ernsthaften Künstlergeneration, die auf diesem Boden wächst.




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